Die Wegnahme einer Geldbörse in dem Wissen, dass sich darin Personalpapiere befinden könnten, indiziert nicht die von § 274 StGB vorausgesetzte Nachteilszufügungsabsicht. | |
Aktenzeichen & Fundstelle | |
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Az.: OLG Hamm 5 RVs 63/20 in: NStZ 2021, 430 NJW 2021, 1969 RÜ 2021, 33 |
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A. Orientierungs- oder Leitsatz | |
Die Wegnahme einer Geldbörse in dem Wissen, dass sich darin Personalpapiere befinden könnten, indiziert nicht die von § 274 StGB vorausgesetzte Nachteilszufügungsabsicht. | |
B. Sachverhalt (im Original nach österreichischem Recht) | |
A entwendet wiederholt Geldbörsen betagter Personen, um sich das darin befindliche Bargeld zu verschaffen sowie mit den in den Geldbörsen befindlichen EC-Karten weitere Bargeldbeträge von deren Konten abzuheben. Als A die G beim Entenfüttern im Park beobachtet, entnimmt er kurzer Hand ihrer Einkaufstasche die Geldbörse und entflieht. Darin befinden sich neben Bargeld und EC-Karten auch Personalausweis und Führerschein der G. A nimmt in sicherer Entfernung Geld und Karten an sich und entsorgt die Geldbörse, in der sich noch immer die Personalpapiere befinden, im nächsten Mülleimer. Strafbarkeit von A gem. § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB? |
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C. Anmerkungen | |
Das objektive Tatgeschehen ist in dem vom OLG Hamm zu entscheidenden Fall zweifelsfrei erwiesen.
Die Personalpapiere in Gestalt von Personalausweis und Führerschein stellen verkörperte Gedankenerklärungen über die wesentlichen persönlichen Daten einer Person und deren Fahrerlaubnis dar, sind zum Beweis dieser Tatsachen im Rechtsverkehr geeignet und lassen durch Aufschriften und Siegel die Bundesrepublik Deutschland als Aussteller erkennen. Damit erfüllen sie Perpetuierungs-, Beweis- und Garantiefunktion und können als Urkunden bezeichnet werden. Der Begriff des „Gehörens“ in § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB stellt nicht auf die dingliche Rechtslage ab, sondern auf das Recht, die Urkunde zum Beweis zu verwenden. Das Recht, die Personalpapiere zum Beweis zu verwenden, steht der G zu. Die Urkunde gehört daher der G, jedenfalls nicht ausschließlich dem A. Ein Unterdrücken liegt vor, wenn der Täter eine Handlung vornimmt, durch welche dem Berechtigten die Nutzung der Urkunde als Beweismittel zumindest zeitweilig entzogen oder vorenthalten wird. Es kommt daher vorliegend nicht darauf an, ob die G ihre Ausweispapiere später zurückerlangt, denn bereits mit dem Entwenden wird der G die Möglichkeit zur Nutzung ihrer Personalpapiere als Beweismittel entzogen. Relevant ist in dem vorliegenden Fall die subjektive Komponente: Während der gewöhnliche Taschendieb Personalpapiere in Geldbörsen vermutet, gibt es doch mangels eines entsprechenden Erfahrungssatzes keinerlei Anzeichen dafür, dass er dies für sicher hält. Bei Bemerken des Inhalts der Geldbörse ist dem Opfer indes die Urkunde als Beweismittel schon entzogen, sodass für ein Unterdrücken kein Raum mehr bleibt. Es mangelt folglich im Zeitpunkt des Entwendens der Geldbörse am entsprechenden Vorsatz (wenigstens dolus directus 2. Grades) und später, wenn der Täter sichere Kenntnis von den Personalpapieren erlangt hat, kann kein Unterdrücken mehr erfolgen. Der später eintretende Vorsatz genügt dem Koinzidenzprinzip nicht und ist daher als dolus subsequens unbeachtlich. A ist nicht strafbar gem. § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB. |
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D. In der Prüfung | |
Strafbarkeit des A gem. § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB 1. Tatbestand a. Objektiver Tatbestand aa. Urkunde bb. Nicht ausschließlich dem Täter gehörend cc. Unterdrücken b. Subjektiver Tatbestand aa. Vorsatz bb. (P) Nachteilszufügungsabsicht 2. Rechtswidrigkeit 3. Schuld |
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E. Zur Vertiefung | |
Zur Vertiefung: Ladiges, Urkundenunterdrückung durch Wegnahme einer Geldbörse mit Girocard und Personalausweis, RÜ 2021, 23 | |
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