1. Für den Bundeskanzler gelten die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise wie für die sonstigen Mitglieder der Bundesregierung. 2. Aus der Kompetenzordnung innerhalb der Bundesregierung folgt zwar – verglichen mit den übrigen Kabinettsmitgliedern – ein gegenständlich weiteres Äußerungsrecht des Bundeskanzlers, nicht jedoch ergeben sich daraus andere Anforderungen mit Blick auf die Beachtung des Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebots. 3. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verleihen, müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann. |
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Aktenzeichen & Fundstelle | |
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Az.: BVerfG 2 BvE 4/20
in: BeckRS 2022, 13335 |
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A. Orientierungs- oder Leitsatz | |
1. Für den Bundeskanzler gelten die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise wie für die sonstigen Mitglieder der Bundesregierung. 2. Aus der Kompetenzordnung innerhalb der Bundesregierung folgt zwar – verglichen mit den übrigen Kabinettsmitgliedern – ein gegenständlich weiteres Äußerungsrecht des Bundeskanzlers, nicht jedoch ergeben sich daraus andere Anforderungen mit Blick auf die Beachtung des Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebots. 3. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verleihen, müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann. |
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B. Sachverhalt | |
Im Februar 2020 fand im Thüringer Landtag die Wahl zum Ministerpräsidenten statt. Nachdem in den beiden ersten Wahlgängen keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Stimmenmehrheit erhielt, nominierte die FDP-Fraktion ihren eigenen Kandidaten K. Dieser wurde im dritten Wahlgang mit der erforderlichen einfachen Mehrheit gewählt. Auf den von der AfD-Fraktion nominierten Kandidaten entfielen keine Stimmen. Wegen dieser vermuteten Unterstützung durch Abgeordnete der A-Fraktion stieß die Wahl des K anschließend auf Kritik. Bundeskanzlerin M – zu dieser Zeit Parteivorsitzende der CDU – äußerte sich auf einer Pressekonferenz in Südafrika wie folgt: „Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der A-Partei gewonnen werden sollen. Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss. Zumindest gilt für die CDU, dass sich die CDU nicht an einer Regierung unter dem gewählten Ministerpräsidenten beteiligen darf. […]“. Die antragstellende AfD sieht sich durch diese Äußerungen in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien verletzt. |
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C. Anmerkungen | |
Der Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG ist zulässig und begründet. Die angegriffenen Äußerungen verletzen das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG. |
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D. In der Prüfung | |
Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG I. Beeinträchtigung der Chancengleichheit 1. Spezifische Inanspruchnahme von Amtsautorität (P): Abgrenzung zwischen amtlichen und parteipolitischen bzw. privaten Äußerungen (!) 2. Einwirkung auf den politischen Wettbewerb II. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 1. Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung (-) 2. Vertrauen in die Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft (-) 3. Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit |
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E. Literaturhinweise | |
Barczak, Die parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern, NVwZ 2015, 1014; Gröpl/Zembruski, Äußerungsbefugnisse oberster Staatsorgane und Amtsträger, Jura 2016, 268; Milker, Äußerungen von Hoheitsträgern im Wahlkampf und darüber hinaus, JA 2017, 647; Spitzlei, Die poltische Äußerungsbefugnis staatlicher Organe, JuS 2018, 856 |
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