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Entscheidung der Woche 42-2023 (ÖR)

Sebastian Hielscher

Die Pflicht, einen Nachweis über die Masernimpfung zu erbringen, ist nicht evident verfassungswidrig.

Aktenzeichen und Fundstelle

Az.: VG Berlin, Beschl. v. 11.09.2023 und 15.09.2023, 14 L 210/23 und 14 L 231/23.

in: BeckRS 2023, 26044

 

A. Orientierungs - oder Leitsätze (d. Red.)

1. Ein Fachgericht darf ein formelles Gesetz im Eilverfahren nur dann unangewendet lassen, wenn dessen Verfassungswidrigkeit evident ist.

2. Die Pflicht, einen Nachweis über die Masernimpfung zu erbringen, ist nach diesem Maßstab nicht evident verfassungswidrig.


B. Sachverhalt

Die Antragsteller sind sorgeberechtigte Eltern zweier schulpflichtiger Kinder. Mit Schreiben des zuständigen Gesundheitsamtes vom 27.2.2023 wurden sie dazu aufgefordert, den Masernimpfschutz ihrer Kinder nachzuweisen. Die Antragsteller lehnten dies mit Schreiben vom 27.3.2023 ab. Daraufhin ordnete das Gesundheitsamt mit zwei Bescheiden vom 18.4.2023 jeweils für jedes Kind gegenüber den Antragstellern an, dass ein Nachweis über den bestehenden Impfschutz, eine anderweitige Immunität oder eine medizinische Kontraindikation gegen die Impfung zu erbringen sei, und setzte eine Frist bis 2.6.2023. Ein Zwangsgeld i. H. v. 200 Euro je Kind wurde für den Fall der Nichterbringung angedroht; ferner wurde ein Bußgeld i. H. v. 1.250 Euro je Kind für die bisherige Nichterbringung festgesetzt. Zur Begründung der Nachweispflicht wurde insbesondere die Gefährlichkeit der Masernkrankheit und das hieraus resultierende überwiegende öffentliche Interesse an der Beseitigung der Gefährdungslage angeführt.

Mit ihren Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz wenden sich die Antragsteller gegen diese Bescheide und berufen sich im Wesentlichen auf die formelle und materielle Verfassungswidrigkeit der streitgegenständlichen Normen.


C. Anmerkungen

Die Kammer weist die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung als zwar teilweise zulässig, aber unbegründet zurück. Soweit sie sich gegen das Schreiben vom 27.2.2023 richteten, sind sie bereits nach Erlass der Bescheide vom 18.4.2023 mangels Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig.

Im Übrigen weist die Kammer die Anträge als unbegründet zurück. Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren begegnen die angeordnete Nachweispflichtt und die Zwangsgeldandrohung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, sodass das Vollziehungs- dem Aussetzungsinteresse überwiegt. Rechtsgrundlage der Nachweispflicht ist § 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 33 Nr. 3 Alt. 1 und § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG.

Deren von den Antragstellern geltend gemachte offensichtliche Verfassungswidrigkeit vermag die Kammer nicht zu erkennen. Das Verwerfungsmonopol für formelle Gesetze kommt allein dem BVerfG zu, was durch die Vorlagepflicht der Gerichte gem. Art. 100 Abs. 1 GG untermauert wird. Im Eilverfahren steht diese jedoch im Spannungsfeld zum Gebot effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 IV GG. Zwar ist es den einfachen Gerichten in diesen Fällen nicht verwehrt, Eilrechtsschutz zu gewähren und das angegriffene Gesetz unangewendet zu lassen, jedoch muss sich dies auf Ausnahmefälle beschränken, in denen die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes evident ist.

Nach Auffassung der Kammer greift die hier in Rede stehende Regelung zwar in erheblicher Weise in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG ein; die Rechtsgrundlage vermag jedoch das Elternrecht wirksam zu beschränken. Die Kammer bezieht sich dabei durchgehend auf den Beschluss des BVerfG zur Masernimpfpflicht (BVerfG, Beschl. v. 21. Juli 2022 - 1 BvR 469/20). Von vorneherein schließt die Kammer dabei eine formelle Verfassungswidrigkeit aus, mit welcher sich das BVerfG im o.a. Beschluss ausführlich auseinandergesetzt hat. Auch die materielle Verfassungsmäßigkeit, insbesondere die Verhältnismäßigkeit, sieht die Kammer in Anlehnung an die Ausführungen des BVerfG mit einiger Wahrscheinlichkeit als gegeben an. Die Kammer sieht, anders als die Antragsteller, keinen Anlass, die Angaben von Roland-Koch- und Paul-Ehrlich-Institut zu Nebenwirkungen und Wirksamkeit der Impfungen in Zweifel zu ziehen. Zwar hätten die Antragsteller im vorliegenden Fall (anders als im BVerfG-Beschluss) nicht die Möglichkeit, sich der Nachweispflicht zu entziehen; gleichwohl sieht die Kammer die Nachweispflicht angesichts der hoch zu gewichtenden öffentlichen Interessen nicht als evident unverhältnismäßig an. Die übrigen Voraussetzungen des Erlasses der Anordnungen sieht die Kammer als erfüllt an; Ermessensfehler sind nicht zu erkennen.

Sodann widmet sich die Kammer den Zwangsgeldandrohungen. Diese betrachtet sie nach summarischer Prüfung ebenfalls als rechtmäßig. Rechtsgrundlage ist § 13 VwVG i. V.m. § 6 Abs. 1, § 11 VwVG i. V. m. § 8 Abs. 1 VwVfG Bin. Das angedrohte Zwangsgeld ist schließlich - auch hinsichtlich seiner Höhe - verhältnismäßig.


D. In der Prüfung

I. Sachentscheidungsvoraussetzungen

1. Verwaltungsrechtsweg

2. Statthafte Antragsart

3. Antragsbefugnis

...

II. Begründetheit

1. Rechtsgrundlage

a) Formelle Verfassungsmäßigkeit

b) Materielle Verfassungsmäßigkeit

2. Formelle Rechtmäßigkeit

3. Materielle Rechtmäßigkeit


E. Literaturhinweise

BVerfGE 162, 378; Gebhard, Friederike: Kindeswohl schlägt Elternrecht: Zur Masernimpfpflicht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, VerfBlog, 11.9.2022.

 
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