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Entscheidung der Woche 43-2022 (ÖR)

Aron Rössig

Die verfassungsgerichtliche Klärung der Streitfrage, ob die Wiederaufnahmemöglichkeit eines Strafverfahrens zu Ungunsten eines Angeklagten gem. § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform ist, muss einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.:  BVerfG 2 BvR 900/22

in: BeckRS 2022, 16783

NJW 2022, 2389

NStZ-RR 2022, 311

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

1. Die verfassungsgerichtliche Klärung der Streitfrage, ob die Wiederaufnahmemöglichkeit eines Strafverfahrens zu Ungunsten eines Angeklagten gem. § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform ist, muss einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

2. Ist im Eilverfahren gegen einen im Wiederaufnahmeverfahren nach § 362 Nr. 5 StPO wegen Fluchtgefahrs erlassenen Haftbefehl eine Folgenabwägung vorzunehmen, kann eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls bei gleichzeitiger Anordnung von Maßnahmen zur Sicherung des Strafverfahrens für den Fall der Verfassungsmäßigkeit von § 262 Nr. 5 StPO in Betracht kommen.

3. Die im vorliegenden Fall vorzunehmende Folgenabwägung gebietet den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, den Vollzug des Haftbefehls unter Anordnung der im Tenor aufgeführten Maßnahmen auszusetzen. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, drohten dem Beschwerdeführer erhebliche und irreversible Nachteile. Er würde nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Landgericht voraussichtlich bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss in Untersuchungshaft bleiben, wenn nicht vorher über die Verfassungsbeschwerde entschieden wird.


B. Sachverhalt

Am 01.07.1982 verurteilte das LG Lüneburg den Beschwerdeführer (Bf.) wegen Vergewaltigung  und Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der gebürtige Türke hatte laut Anklage im Jahre 1981 eine 17-jährige Schülerin vergewaltigt und anschließend getötet. Mit Beschluss des BGH vom 25.01.1983 wurde dieses Urteil jedoch aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das LG Stade verwiesen. Grund hierfür seien Mängel in der Beweisführung gewesen. Mit Urteil vom 13.05.1983 wurde der Bf. vom LG Stade freigesprochen. Der Fall sorgte landesweit für Empörung und wurde als ,,Mordfall Frederike“ bekannt. Anfang 2012 unterzog das Nds. LKA Sekretanhaftungen, die nach der Tat sichergestellt worden waren, einer Untersuchung. Die Ergebnisse dokumentierten, dass der Bf. als Verursacher einer Spermaspur in Betracht kommt. Am 30.12.2021 trat schließlich, auch durch öffentlichen Druck mittels einer vom Vater des Opfers initiierten Petition, die Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO, aufgrund des ,,Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ vom 21.12.2021 (BGBl. I 2021, S. 5252), in Kraft. Die Neufassung sieht ein Wiederaufnahmeverfahren zu Ungunsten eines bereits Angeklagten in bestimmten Fällen vor.

Aufgrund dessen beantragte die StA im Februar 2022 beim LG Verden die Wiederaufnahme des Strafverfahrens und den Erlass eines Haftbefehls. Das LG erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit angegriffenem Beschluss vom 25.02.2022 für zulässig und ordnete zugleich die Untersuchungshaft gegen den Bf. an, weil dringender Tatverdacht gegen ihn bestehe und der Haftgrund der Schwerkriminalität gem. § 112 Abs. 3 StPO sowie Fluchtgefahr vorlägen. So sei aufgrund seiner türkischen Herkunft  nicht auszuschließen, dass er über gute Kontakte in die Türkei verfüge und sich dort verborgen halten könne, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Der Bf. wurde noch am selben Tag festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Seine gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde verwarf das OLG Celle mit angegriffenem Beschluss vom 20.04.2022. Mit seiner Verfassungsbeschwerde (VB) gegen den Beschluss des LG und OLG rügte der Bf. eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Auch beantragte er, den Haftbefehl mittels einstweiliger Anordnung bis zur Entscheidung über die VB außer Vollzug zu setzen.


C. Anmerkungen

Das BVerG hat mittels einstweiliger Anordnung i.S.d. § 32 Abs. 1 BVerfGG den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt und damit dem Antrag teilweise (da unter Auflagen) stattgegeben. Dabei erging die Entscheidung nur mit knapper Mehrheit (5:3). In der Begründung wird u.a. darauf verwiesen, dass die VB nicht offensichtlich unbegründet sei, da die Frage nach der Verfassungskonformität des § 362 Nr. 5 StPO, umstritten wäre. Die Klärung dieser verfassungsrechtlichen Frage müsse dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Beschluss macht deutlich, dass bereits im Gesetzgebungsverfahren verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Gesetzesänderung geäußert wurden und dabei auch der Bundespräsident im Rahmen der Ausfertigung und Verkündung des Änderungsgesetzes Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit kundgetan habe. Auch würden im Schrifttum mögliche Verstöße gegen den Kerngehalt des Art. 103 Abs. 3 GG (Ne bis in idem), den Bestimmheitsgrundsatz und gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG, die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG), den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) und die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) diskutiert werden. Lege man diese Unklarheit zugrunde, so komme der Senat zu dem Ergebnis, dass die VB in der Hauptsache weder für von vornherein unzulässig, noch offensichtlich unbegründet sei, sodass es auf eine Folgenabwägung ankomme. 

Im Rahmen der Abwägung gelangte der Senat zu der Ansicht, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt geboten sei, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen. Würde diese nicht ergehen und hätte die VB Erfolg, so würden dem Bf. erhebliche Nachteile irreversibler Art drohen. Insbesondere müsste er nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens durch das LG aller Voraussicht nach bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss in Untersuchungshaft bleiben, wenn nicht vorher über die VB entschieden werden würde. Die würde dann eine Verletzung des Art. 103 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG darstellen. Ferner sei die Untersuchungshaft ein besonders intensiver Grundrechtseingriff und zudem nachträglich nicht mehr rückgängig zu machen, sodass die möglichen Grundrechtsverletzungen gegenüber den Nachteilen schwerer wiegen würden, als wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen werden würde, der Antrag in der Hauptsache aber unbegründet wäre. Der Bf. kommt jedoch nur unter bestimmten Auflagen frei. So muss er u.a. seine Ausweispapiere beim LG abgegeben, sich zweimal wöchentlich bei der zuständigen StA melden und darf zudem seinen Wohnort nicht verlassen. Es bleibt abzuwarten, wie das BVerfG im Hauptsacheverfahren urteilen wird.

Der Fall zeigt einmal mehr das Spannungsverhältnis von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit auf. Diesem müsste der Gesetzgeber im Sinne der Praktischen Konkordanz einem angemessenen Ausgleich zugeführt haben, damit der § 362 Nr. 5 StPO eine taugliche verfassungsimmanente Schranke darstellen kann, womit sich das BVerfG noch zu beschäftigen haben wird. Dem Studenten bietet der Fall  Anlass, sich den Eilrechtsschutz nach § 32 BVerfGG genauer zu vergegenwärtigen, der auch im Examen von Relevanz sein kann.


D. In der Prüfung

A. Zulässigkeit

B. Begründetheit

I. Voraussetzungen des § 32 BVerfGG

1. Erfolgsaussichten in der Hauptsache

2. Folgenabwägung

II. Ergebnis


E. Literaturhinweise

Muckel, Ne bis in idem: einstweilige Anordnung des BVerfG gegen den Vollzug eines Haftbefehls im Wiederaufnahmeverfahren, JA 2022, 785;

Wenglarczyk, Grundzüge des Eilrechtsschutzverfahrens vor dem BVerfG nach § 32 BVerfGG, JuS 2021, 1024;

Kubiciel, Reform der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen im Licht desVerfassungsrechts, GA 2021, 380;

Singelnstein, Die Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen, NJW 2022, 1058.

 
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