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Entscheidung der Woche 28-2025 (ÖR)

Patricia Moreno Blanco

Bei Schmerzgriffen/Nervendrucktechniken handelt es sich um eine Maßnahme, bei der durch die Erzeugung von Druck auf empfindliche Stellen des Körpers ein Schmerzgefühl hervorgerufen wird. Es wird durch direkte Anwendung von Körperkraft auf den Körper des Betroffenen eingewirkt, sodass es sich um eine Form unmittelbaren Zwangs handelt.

Aktenzeichen und Fundstelle

Az.: VG Berlin, Urt. v. 20.03.2025 - VG 1 K 281/23

in: BeckRS 2025, 4655

A. Orientierungs- oder Leitsätze

1.Bei Schmerzgriffen/Nervendrucktechniken handelt es sich um eine Maßnahme, bei der durch die Erzeugung von Druck auf empfindliche Stellen des Körpers ein Schmerzgefühl hervorgerufen wird. Es wird durch direkte Anwendung von Körperkraft auf den Körper des Betroffenen eingewirkt, sodass es sich um eine Form unmittelbaren Zwangs handelt.

2.Ein Wegtragen von Personen ist nicht stets das mildere gleich geeignete Mittel gegenüber der Anwendung von Schmerzgriffen.

Das Wegtragen scheidet jedenfalls dann aus, wenn nicht genügend Polizeikräfte vorhanden oder alle anwesenden Kräfte mit anderen Aufgaben befasst sind.


B. Sachverhalt

Der Klimaaktivist K ist Teilnehmer einer Straßenblockade der „Letzten Generation". K hatte sich dort zusammen mit etwa 40 weiteren Aktivist:innen der "Letzten Generation" auf die Fahrbahn gesetzt. Einige hatten sich auch festgeklebt, K aber nicht. Der 21-Jährige ist an die zwei Meter groß, aber schlank - zu dritt konnten ihn die Beamten jedenfalls tragen. Aufgrund der Straßenblockade war kein Durchfahrtsverkehr mehr möglich, weshalb die eintreffenden Polizeikräfte die Teilnehmenden mehrfach aufforderten, die Fahrbahn zu verlassen und ihre Demonstration auf dem Gehweg fortzusetzen. Als die Teilnahmenden der Aufforderungen nicht nachkamen. losten die Beamten die Versammlung auf und drohten unmittelbaren Zwang an. Nachdem K trotzdem sitzen bleibt, forderte ihn eine Einsatzkraft der Polizei mehrmals auf, die Fahrbahn zu verlassen und erläuterte ihm, dass er die nächsten Tage „Schmerzen beim Kauen und schlucken haben werde", wenn der K „ihn zwinge", ihm Schmerzen zuzufügen. K verblieb im Schneidersitz mit den Armen am Körper. Nachdem die Einsatzkraft bis drei gezählt hatte, begann sie, den K gemeinsam mit einer weiteren

Einsatzkraft unter Anwendung von Schmerzgriffen von der Fahrbahn zu bewegen. K leistete keinen Widerstand. K ist der Auffassung, die Anwendung des Schmerzgriffs sei unverhältnismäßig und damit rechtswidrig gewesen. Die Beamten hätten sich auf das Wegtragen beschränken können.


C. Anmerkungen

I. Prozessrecht

Das VG Berlin hielt die Klage des K für zulässig und begründet.

Statthafte Klageart ist die allgemeine Feststellungsklage in Form der negativen Feststellungsklage gem. § 43 1 Var. 2 VwGO, da Streitgegenstand die Frage ist, ob die Anwendung von Schmerzgriffen ggü. K rechtmäßig war. K möchte damit feststellen lassen, dass die Polizeikräfte nicht dazu befugt waren - das streitige Rechtsverhältnis also nicht bestand. Zu berücksichtigen ist zudem dass es sich hierbei um ein erledigtes, vollständig in der Vergangenheit liegendes Rechtsverhältnis handelt, weshalb ein besonderes, qualifiziertes Feststellungsinteresse erforderlich ist Dies ist hier zu bejahen, da die Anwendung der Schmerzgriffe einen möglichen tiefgreifenden Grundrechtseingriff des K in Art. 2 II 1 GG und Art. 8 1 GG darstellen könnte. Zudem ist ein sich typischerweise kurzfristig erledigendes Verwaltungshandeln gegeben.

II. Materielles Recht

K hat einen Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anwendung von Schmerzgriffen durch den Beamten, da diese im konkreten Einzelfall nicht erforderlich waren. Rechtsgrundlage der Anwendung von Schmerzgriffen ist § 6 II VwVG i.V.m. § 91 lit. c), § 12 VwVG (i.V.m. UZwG). Führt die Ersatzvornahme oder das Zwangsgeld nicht zum Ziel oder sind sie untunlich, so kann die Vollzugsbehörde nach § 12 VwVG den Pflichtigen zur Handlung, Duldung oder Unterlassung zwingen oder die Handlung selbst vornehmen. Dabei stellen Schmerzgriffe Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs dar und sind als direkte Einwirkung von Körperkraft des handelnden Polizeibediensteten auf den Körper des Betroffenen unter der nicht abschließenden Aufzählung des § 2 III UZwG zu subsumieren.

Schwerpunkt dieses Falles ist die ordnungsgemäße Art und Weise der Vollziehung, insb. die Anwendung des Zwangsmittels unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit. Im Ergebnis erweist sich die Anwendung der Schmerzgriffe als unverhältnismäßig, da das Wegtragen des K ohne Zufügung von Schmerzen ein milderes, gleich geeignetes Mittel darstellt - zumal K keinen Widerstand leistete.


D. In der Prüfung: Rechtmäßigkeit der Anwendung des

Schmerzgriffes gegen K

I. Ermächtigungsgrundlage: §§ 6, 9 I lit. c), 12 VwVG II. Formelle Rechtmäßigkeit

III. Materielle Rechtmäßigkeit

  1. Vollstreckungsvoraussetzungen im gestreckten Verfahren

    → (-), da keine schriftliche Androhung gem. § 13 I 1 VwVG

  2. Vollstreckungsvoraussetzungen im Sofortvollzug

    a. Sofortvollzug trotz vorherigen VAs

    b. Verhinderung einer rechtswidrigen Tat

    c. Notwendigkeit des Sofortvollzugs

    d. Handeln im Rahmen der Befugnisse

3. Ordnungsgemäße Art und Weise der Vollstreckung

a) Richtiges Zwangsmittel

(P) Schmerzgriffe = unmittelbarer Zwang?

b) Androhung und Festsetzung

c) Anwendung des 2wangsmitteis, Insd. VHMK

(P) Wegtragen = milderes, gleich effektives Mittel? (+)


E. Literaturhinweise

RÜ 07/2025, 409; LTO: „Schmerzgrenze im Einzelfall überschritten"


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