Entscheidung der Woche 04-2020 (ÖR)
Rim Talal
Die Jahresfrist gemäß § 48 IV 1 VwVfG ist eine Entscheidungsfrist und keine Bearbeitungsfrist.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerwG, Urt. v. 23.01.2019 – 10 C 6.17
in: BeckRS 2019, 4500
A. Leitsätze
1. Die Jahresfrist gemäß § 48 IV 1 VwVfG ist eine Entscheidungsfrist und keine Bearbeitungsfrist.
2. Die Behörde erlangt nur infolge einer Anhörung des Betroffenen die Kenntnis von den für die Ausübung des Rücknahme- bzw. Widerrufsermessens maßgeblichen Umstände.
3. Ein Rechtsirrtum der Behörde beeinflusst den Lauf der Jahresfrist gemäß § 48 IV VwVfG nicht.
4. Bei § 48 IV VwVfG handelt es sich um eine Ausschlussfrist, welche weder eine Verlängerung noch eine Wiedereinsetzung zulässt.
B. Sachverhalt (verkürzt)
Klägerin E betrieb eine Pension sowie ein Hotel, welche durch das Elbhochwasser geschädigt wurden. Aufgrund dessen wurden ihr durch die zuständige Behörde B mehrere Subventionen zur Beseitigung der Schäden zwischen 2002 und 2003 zugebilligt. Anfang 2005 stellte sich heraus, dass die Einrichtungsgegenstände des E-Hotels nicht E, sondern Verpächterin V gehörten. Daraufhin wird E im April 2005 angehört. Im April 2007 legte E der Behörde den Verwendungsnachweis vor, woraufhin B die E im Mai 2007 zur beabsichtigten Rückforderung eines Teils der Zuwendung anhörte.
Es folgte ein Erörterungstermin, bei dem E die Vorlage einer Bestätigung ihres Steuerberaters bis Anfang September 2008 zusagte, was jedoch unterbleib. Im September 2010 stellte B fest, dass sich die Zuwendungsbeträge ermäßigt hatten, weshalb sie eine Rückerstattung von E fordern. Der Widerspruch der E, die sich auf den Fristablauf beruft, wurde dabei mit einem Widerspruchsbescheid im Januar 2012 zurückgewiesen.
C. Anmerkungen
Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass der Erstattungsbescheid insgesamt rechtswidrig ist und hebt daher den Bescheid vom 29.09.2010 sowie den Widerrufsbescheid vom 24.01.2012 aufgrund der abgelaufenen Jahresfrist gemäß § 49 III 2 i.V.m. § 48 IV VwVfG auf. Zunächst lässt sich anführen, dass die Frist zu laufen beginnt, wenn die Behörde vollständige Kenntnis von dem für die Rücknahme oder den Widerruf des Verwaltungsaktes erheblichen Sachverhalt erlangt hat. Dies ist der Fall, wenn die Behörde ohne weitere Ermittlungen objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme bzw. den Widerruf zu entscheiden. Dabei wird im Gegensatz zur Literatur die Jahresfrist nicht als Bearbeitungsfrist, sondern als Entscheidungsfrist gesehen. Die Frist beginnt dabei mit Eingang der Stellungnahme des Betroffenen gemäß § 28 I VwVfG zu laufen.
E wurde von B am 08.05.2007 zur beabsichtigten Rückforderung angehört. Dabei kündigte E eine Bestätigung ihres Steuerberaters bis Anfang September 2008 an, was jedoch unterblieb. Durch die verstrichene Frist zur Nachreichung ergänzender Nachweise durch E war für die Beklagte B damit der Fall entscheidungsreif, sodass die Jahresfrist ab diesem Zeitpunkt begann und bei Erlass des Feststellungs- und Entscheidungsbescheides vom 28. September 2010 bereits verstrichen war. Ferner war die Behörde irrtümlich davon ausgegangen, dass ein Widerruf nicht erforderlich sei.
Allerdings kann sich die Behörde nicht zu Lasten des Begünstigten, hier E, auf den Rechtsirrtum berufen. Die Verfristung wird nicht dadurch geheilt, dass E im Widerspruchsverfahren erneut Stellung genommen und die Behörde das Ermessen erneut ausgeübt hat. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG ist die Frist nach § 48 IV VwVfG eine Ausschlussfrist, die nicht verlängert oder in die wiedereingesetzt werden kann.
D. In der Prüfung
A. Zulässigkeit (+)
B. Begründetheit
I. Rechtsgrundlage
II. Formelle Rechtmäßigkeit
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Begünstigender Verwaltungsakt
a) Widerrufsgrund, § 49 III
b) Widerrufsfrist des § 49 III i.V.m. § 48 IV VwVfG
E. Zur Vertiefung
Folnovic/Hellriegel, Der Widerruf im Zuwendungsrecht - eine Systematik, NVwZ 2016, 638.