Entscheidung der Woche 05-2024 (ÖR)
Maja Dettmers
Die Bedeutung der Forschungsfreiheit wird verkannt, wenn die Instanzgerichte bei der Beschlagnahme von Daten zu einer Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug,...
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerfG, 1 BvR 2219/20
in: BeckRS 2023, 28302
A. Leitsätze (übernommen aus BeckRS)
1. Zu den Begründungsanforderungen einer Verfassungsbeschwerde nach § 23 Abs. 1 S. 2, § 92 BVerfGG gehört es, dass auch zu der Einhaltung der Monatsfrist vorgetragen wird.
2. Die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) umfasst auch die Erhebung und Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte als Bestandteil der Prozesse und Verhaltensweisen bei der Suche nach Erkenntnissen. Die staatlich erzwungene Preisgabe von Forschungsdaten durch Ermittlungsmaßnahmen in Form von Durchsuchung und Beschlagnahme greift erheblich in die Wissenschaftsfreiheit ein.
3. Die Bedeutung der Forschungsfreiheit wird verkannt, wenn die Instanzgerichte bei der Beschlagnahme von Daten zu einer Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug, hinsichtlich derer bei der Erhebung den Probanden Vertraulichkeit zugesichert wurde, davon ausgehen, dass die Forschungsfreiheit nur unerheblich beeinträchtigt werde.
B. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer ist Inhaber eine Lehrstuhls für Psychologie und führt empirische Studien i.R.e. Forschungsprojekts zur „Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug“ durch. Im Zuge derer wurden Inhaftierte einer Justizvollzugsanstalt interviewt, denen vorab Vertraulichkeit zugesichert worden war.
Die zuständige Ermittlungsrichterin am Oberlandesgericht ordnete die Durchsuchung der Räumlichkeiten des Lehrstuhls des Beschwerdeführers und Beschlagnahme der Forschungsdaten betreffend einen Studienteilnehmer an. Begründet wurde der Beschluss damit, dass gegen diesen Studienteilnehmer der Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bestünde.
Der betroffene Professor wehrte sich erfolglos vor dem OLG. Dieses wies die erhobene Beschwerde mit dem Hinweis, dass dem Beschwerdeführer weder einfachgesetzlich aus der StPO noch abgeleitet aus Art. 5 III 1 GG ein Zeugnisverweigerungsrecht zustehe, zurück. Zudem führte es aus, dass selbst wenn eine Abwägung zwischen der Forschungsfreiheit mit dem Strafverfolgungsauftrag geboten sei, jedenfalls die Abwägung zu Lasten der Forschungsfreiheit ausfiele.
Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde.
C. Anmerkungen
Obgleich es sich mangels Fristwahrung „nur“ um einen Kammerbeschluss handelt, sind die Ausführungen des BVerfG im Rahmen eines obiter dictums zu der Reichweite der Wissenschaftsfreiheit und ihrem Verhältnis zu dem Interesse an der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege interessant.
Wie bereits aus den Leitsätzen hervorgeht, hebe die staatlich erzwungene Preisgabe von Forschungsdaten die Vertraulichkeit auf und erschwere oder verunmögliche insbesondere empirische Forschungen, die auf die Erhebung sensibler Daten angewiesen sind. Mithin läge ein Eingriff in die Forschungsfreiheit vor.
Die Wissenschaftsfreiheit kann allerdings durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden. Vorliegend besteht ein Konflikt zum Gebot einer effektiven und funktionstüchtigen Strafrechtspflege aus Art. 20 III GG, welcher durch Rückgriff auf den Grundsatz der praktischen Konkordanz zu lösen ist. Dabei komme der Wissenschaftsfreiheit ein umso höheres Gewicht zu, je stärker das konkrete Forschungsvorhaben und bestimmte Forschungsbereiche auf die Vertraulichkeit bei Datenerhebungen und -verarbeitungen angewiesen sind. Zudem sei der Zusammenhang zwischen der konkret betroffenen Forschung und dem gegenläufigen Belang der Strafrechtspflege zu berücksichtigen gewesen, da erstere für die Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die effektive Verhinderung von Straftaten von besonderer Bedeutung sei. Folglich käme das BVerfG hier zu einer Verletzung der Forschungsfreiheit (und damit zu einem Zeugnisverweigerungsrecht aus Art. 5 III 1 GG).
Dennoch bleibt es dabei, das die angegriffene Entscheidung weiter gilt und die Forschungsdaten rechtmäßig beschlagnahmt wurden. Die Ausführung des BVerfG können daher als Hinweis erstens an den Gesetzgeber, ein ausdrückliches Zeugnisverweigerungsrecht für empirische, kriminologische Forscher*innen zu schaffen und und zweitens an die Rechtsprechung, i.R.d. Einzelfallentscheidung den Ermessensspielraum angesichts der Bedeutung Forschungsfreiheit enger zu fassen, verstanden werden.
D. In der Prüfung
I. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
(P): Anforderungen an die Begründung der Einhaltung der Frist
II. Begründetheit
1. Schutzbereich des Art. 5 III 1 GG
(P): Umfang des sachlichen Schutzbereichs
2. Eingriff
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
(P): Abwägung mit dem Belang der effektiven und funktionstüchtigen Strafrechtspflege i.R.d. Verhältnismäßigkeit
E. Literaturhinweise
Kudlich, JA 2024, 79 f.;
Kreuzer,https://www.faz.net/einspruch/haben-kriminologen-ein-zeugnisverweigerungsrecht-18710449.html (Abruf v. 25.01.2024).