Entscheidung der Woche 06-2020 (SR)
Tim Brockmann
Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen einem unbeendeten Versuch, bei dem nach § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB allein der Abbruch der begonnenen Tathandlung zum strafbefreienden Rücktritt vom Versuch führt, und einem beendeten Versuch ist das Vorstellungsbild des Täters unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont).
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BGH 1 StR 343/19
in: StV 2020, 76
A. Orientierungs- oder Leitsatz
Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen einem unbeendeten Versuch, bei dem nach § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB allein der Abbruch der begonnenen Tathandlung zum strafbefreienden Rücktritt vom Versuch führt, und einem beendeten Versuch ist das Vorstellungsbild des Täters unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont). Ein beendeter Tötungsversuch, bei dem der Täter für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch den Tod des Opfers durch eigene Rettungsbemühungen verhindern oder sich darum zumindest freiwillig und ernsthaft bemühen muss, ist anzunehmen, wenn er zu diesem Zeitpunkt den Eintritt des Todes bereits für möglich hält oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns macht.
B. Sachverhalt
A befand sich zusammen mit B, C und D auf einem Gartenfest. Nachdem der Gastgeber einen Streit zwischen A und B geschlichtet hatte, der durch eine Beleidigung des A ausgelöst wurde, verließen B, C und D das Gartengrundstück und blieben im Bereich des Garteneingangs stehen. Der A ging davon aus, dass die drei Personen gegebenenfalls handgreiflich werden wollen. Um für eine körperliche Auseinandersetzung gewappnet zu sein und um sicher zu gehen, dass er sich durchsetzen werde, nahm A ein in der Hütte befindliches Messer mit.
Als A beim Verlassen des Grundstücks an dem B vorbeiging, äußerte dieser sinngemäß unter anderem „jetzt hau‘ ich Dich“ und packte ihn an der Schulter. Daraufhin versetzten sowohl A als auch B dem jeweils anderen einen Faustschlag im Kopfbereich. Nunmehr zog A das Messer und stach dem B in die rechte Seite. A war dabei bewusst, dass der Stich tödliche Folgen haben konnte; dies war ihm jedoch gleichgültig.
B bemerkte sofort den Schmerz infolge des Stichs und rief: „Er hat mich gestochen“. Spätestens jetzt wusste A, dass der Stich getroffen hatte. Ihm war bewusst, dass er den Stich mit Wucht geführt hatte und er ging davon aus, dass er B empfindlich, möglicherweise auch tödlich verletzt hatte. Zugleich befürchtete er, er würde es spätestens jetzt nicht nur mit B, sondern auch mit C und D zu tun bekommen, nachdem diese gesehen hatten, dass er einen Messerstich ausgeführt hatte. Deshalb führte er keine weiteren Stiche mehr durch, sondern ergriff die Flucht Richtung Wald. C verfolgte zunächst A, brach die Verfolgung aber ab, weil A schnell rannte und er sich um B kümmern wollte.
C. Anmerkungen
Selbst wenn man von einem beendeten Versuch ausgeht, so begegnet die Annahme, A habe nicht freiwillig von der weiteren Tatausführung Abstand genommen, durchgreifenden Bedenken. Eine fehlende Freiwilligkeit muss festgestellt werden und ist nicht ausreichend durch den Sachverhalt belegt. Soweit man darauf abstellt, A sei nach dem Messerstich davon ausgegangen, dass er es nun auch mit C und D zu tun bekomme, ergibt sich aus dem Tatablauf nicht ohne weiteres, warum sich die Situation signifikant gegenüber der Ausgangssituation, in die sich der Angeklagte bewaffnet mit dem Messer und in Kenntnis der Begleitung des B und damit deren Übermacht begeben hatte, geändert haben sollte. Insoweit wäre festzustellen, inwieweit die Zeugen – für den Angeklagten erkennbar – auf den Messerstich reagiert haben und ob sie eingriffsbereit waren, insoweit reicht die Indizienlage nicht aus, zu Ungunsten des A von einer fehlenden Freiwilligkeit auszugehen.
D. In der Prüfung
0. Vorprüfung: Keine Tatvollendung, Strafbarkeit des Versuchs
I. Tatbestand
1. Tatentschluss
2. Unmittelbares Ansetzen
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
IV. Rücktritt, § 24 I 1 1. Alt. StGB
1. Unbeendeter Versuch (P)
2. Aufgabe der weiteren Tatausführung
3. Freiwilligkeit (P)
E. Zur Vertiefung
Hoven, Der Rücktritt vom Versuch in der Fallbearbeitung, JuS 2013, 305.