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Entscheidung der Woche 06-2022 (SR)

Oliver Marks

Dem Täter eines fahrlässig herbeigeführten Brand- oder Explosionsgeschehens können der durch Rettungsmaßnahmen verursachte Tod oder die Körperverletzung von Berufsrettern zugerechnet werden (im Anschluss an BGHSt 39, 322 = NJW 1994, 205).

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BGH 4 StR 19/20

in: NJW 2021, 3340

NStZ 2022, 102

BeckRS 2021, 30939

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

Dem Täter eines fahrlässig herbeigeführten Brand- oder Explosionsgeschehens können der durch Rettungsmaßnahmen verursachte Tod oder die Körperverletzung von Berufsrettern zugerechnet werden (im Anschluss an BGHSt 39, 322 = NJW 1994, 205).


B. Sachverhalt

T wurde als angestellter Arbeiter auf dem Werksgelände eines Chemiekonzerns eingesetzt. Dort sollte er eine metallene Rohrleitung, welche für die Dauer der Arbeiten stillgelegt worden war, mit einem Trennschleifer zerlegen. Nach Freigabe der Arbeiten durch die zuständigen Mitarbeiter des Chemiekonzerns machte sich T daran, die Rohrleitung zu zerlegen. Er verwechselte dabei jedoch die Rohrleitungen, sodass er nicht die von den Mitarbeitern gekennzeichnete Leitung durchtrennte, sondern eine benachbarte gasführende Leitung. Das durch den Schnitt austretende Gas entzündete sich und erhitzte eine weitere Leitung, welche unter hohem Druck Gas führte, was letztlich zu mehreren Explosionen und Feuerwalzen führte. Es näherten sich acht Feuerwehrleute der werkseigenen Feuerwehr sowie zwei weitere Werksmitarbeiter, wobei vier der Feuerwehrleute getötet und die übrigen verletzt wurden. Zudem wurde ein Matrose eines in unmittelbarer Nähe im Betriebshafen liegenden Tankschiffs durch die Druckwelle über Bord geworfen und ertrank.

Strafbarkeit des T gem. §§ 222, 229 StGB?


C. Anmerkungen

Der BGH verwarf die Revision des Angeklagten gegen seine Verurteilung durch das LG Frankenthal (Pfalz) wegen tateinheitlicher fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung gem. §§ 222, 229 StGB.

Zur Begründung wird ausgeführt, dass in der unzureichenden Überprüfung des zu zertrennenden Rohres eine Verletzung der obj. Sorgfaltspflicht liege, wobei der drohende Schaden und die betroffenen Rechtsgüter in Form von Leib und Leben ihrem Gewicht nach im Wesentlichen vorhersehbar waren. Diese Pflichtverletzung zu vermeiden war dem T subjektiv möglich und die möglichen Folgen für ihn erkennbar. Eine obj. Zurechenbarkeit des Erfolges erfordert, dass sich gerade die vom Täter gesetzte Gefahr in einem Erfolg realisiert, der in den Schutzbereich der Norm fällt. Hinsichtlich der Werksmitarbeiter und Feuerwehrleute scheidet eine bewusste Selbstgefährdung insoweit aus, als der Täter mit seiner Tat ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schafft.

Dieses Motiv besteht im vorliegenden Fall in der Berufspflicht der Feuerwehrleute, welche sie rechtlich zum Einschreiten verpflichtet und so in vergleichbarer Intensität motiviert wie die Bedrohung von Rechtsgütern des Opfers oder nahestehender Personen sowie Billigung durch die Rechtsordnung erfährt. Ein Ausschluss wegen mangelnder Rettungsaussichten oder unvertretbarer Gefährlichkeit des Einschreitens kommt nach dem Sachverhalt nicht in Betracht.

Hinsichtlich des Matrosen handelt es sich um ein Zufallsopfer, dessen Tod dem Angeklagten wegen seines Aufenthalts im Wirkbereich der Explosion in für diesen erkennbarer Weise zugerechnet werden kann. Die tateinheitliche Verurteilung gem. § 52 StGB gründet sich auf den zeitlich und räumlich einheitlichen Lebensvorgang, in dem die Schädigungen eintraten und die singuläre Handlung, auf welche sie zurückzuführen sind.

Der dem Urteil des BGH zugrunde liegende Sachverhalt stellt einen Musterfall zur Zurechenbarkeit der Schädigungen freiwilliger Retter dar. Die Fallgruppen der freiverantwortlichen Selbstschädigung oder der Verwirklichung eines dem Beruf immanenten Lebensrisikos werden schon zu Beginn des Studiums erläutert und büßen bis zum Examen nicht an Relevanz ein. Eine Wiederholung lohnt daher in jeder Phase des Studiums.


D. In der Prüfung

Strafbarkeit des T gem. § 222 StGB

I. Tatbestand

1. Tod eines anderen Menschen

2. Kausalität

3. (P) objektive Zurechnung

4. objektive Fahrlässigkeit

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld

1. subjektive Fahrlässigkeit

2. sonstige Schuldmerkmale


Strafbarkeit des T gem. § 229 StGB

I. Tatbestand

1. Körperverletzungserfolg

2. Kausalität

3. (P) objektive Zurechnung

4. objektive Fahrlässigkeit

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld

1. subjektive Fahrlässigkeit

2. sonstige Schuldmerkmale


E. Literaturhinweise

Zur Vertiefung

Amelung, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 08.09.1993 – 3 StR 341/93, NStZ 1994, 83.

 
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