Entscheidung der Woche 07-2020 (ÖR)
Daniel Müller
Die Abschaffung der Stichwahl bei Bürgermeister- und Landratswahlen ist mit den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats i. S. v. Art. 1 Abs. 1, Art 2 Landesverfassung NRW i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar und nichtig.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: VerfGH NRW, Urt. v. 20.12.2019 – 35/19
in: BeckRS 2019, 32591
A. Leitsätze
Die Abschaffung der Stichwahl bei Bürgermeister- und Landratswahlen ist mit den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats i. S. v. Art. 1 Abs. 1, Art 2 Landesverfassung NRW i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar und nichtig.
B. Sachverhalt (verkürzt)
§ 46c Abs. 2 KWahlG NRW a. F. sah vor, dass eine Stichwahl bei Bürgermeister- und Landratswahlen durchzuführen sei, sofern keiner der Bewerber im ersten Wahlgang mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen erhält. Zwischen 2018 und 2019 brachten die Landtagsfraktionen von CDU und FDP mehrere Änderungsanträge ein, die eine erneute Abschaffung der Stichwahl bei den Bürgermeister- und Kommunalwahlen in § 46c KWahlG vorsahen. Zur Begründung heißt es, die Wiedereinführung der Stichwahl im Jahr 2011 habe nicht die erhoffte Wirkung gezeigt, da die Wahlbeteiligung bei 93 Stichwahlen jeweils niedriger gelegen habe als im ersten Wahlgang. Es sei ein fortschreitendes Absinken der Wahlbeteiligung zu verzeichnen. Die Erfahrungen bei Landtags- und Bundestagswahlen zeige zudem, dass es keine Zweifel an der demokratischen Legitimation der Gewählten gebe, obwohl die Wahl durch die relative Mehrheit entschieden werde. Im April 2019 verabschiedete der Landtag das Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes. Nach § 46c Abs. 1 KWahlG NRW n. F. ist als Bürgermeister oder Landrat gewählt, wer von den gültigen Stimmen die höchste Stimmenzahl erhalten hat. Hiergegen wenden sich die Antragsteller im Wege einer abstrakten Normenkontrolle.
C. Anmerkungen
Prüfungsmaßstab der vorliegenden Entscheidung im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 75 Nr. 3 LV, § 12 Nr. 6, § 47a VerfGHG sind das Landesverfassungsrecht sowie - vermittelt durch das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG - die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Art. 1 und 20 GG. Der Verfassungsgerichtshof setzt sich dabei ausführlich mit einem möglichen Verstoß gegen das Demokratieprinzip aufgrund einer ungenügenden Prognoseentscheidung des Gesetzgebers auseinander.
1. Eine abstrakte Beurteilung der Legitimationswirkung einer einstufigen Wahl ist nicht möglich. Diese muss vielmehr anhand der tatsächlichen Verhältnisse beurteilt werden.
2. Der Landesgesetzgeber verfügt bei der konkreten Ausgestaltung der Wahl über einen weiten Gestaltungsspielraum. Die gerichtliche Kontrolle ist dabei auf die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen beschränkt.
3. Das Ziel, einer Schwächung der Legitimationskraft entgegenzuwirken, kann grundsätzlich einen sachlichen Grund für die Wahlrechtsänderung darstellen. Das Gebot hinreichender Legitimationskraft folgt aus dem Demokratieprinzip.
4. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft kann bei einer einstufigen Wahl künftig zu einer höheren Zahl von Hauptverwaltungsbeamten führen, die nur mit jeweils niedrigen relativen Mehrheiten gewählt werden. Dies hätte der Gesetzgeber bei der Prognose über die Legitimationskraft zwingend berücksichtigen müssen.
D. In der Prüfung
A. Zulässigkeit
B. Begründetheit
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
1. Verstoß gegen Grundrechte
2. Verstoß gegen sonstiges Verfassungsrecht
a. Verstoß gegen das Demokratieprinzip
b. Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl
c. Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Bewerber
E. Zur Vertiefung
Mehde, Zur Abschaffung und Wiedereinführung der Stichwahlen, KommJur 2013, 446 - 452.