Entscheidung der Woche 07-2022 (ÖR)

Lisa Mariß
Aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG folgt nicht, dass die Landesregierung und ihre Mitglieder gehindert wären, verfassungsfeindliche Bestrebungen politischer Parteien als solche zu bezeichnen und darauf in angemessener Weise zu reagieren.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: Niedersächsischer StGH, Urteil vom 24.11.2020 – 6/19
in: openJur 2020, 77853
Entscheidungsdatenbank Niedersachsen
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. Aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG folgt nicht, dass die Landesregierung und ihre Mitglieder gehindert wären, verfassungsfeindliche Bestrebungen politischer Parteien als solche zu bezeichnen und darauf in angemessener Weise zu reagieren.
2. Die Landesregierung und ihre Mitglieder sind insbesondere berechtigt und verpflichtet, das freiheitlich-demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Niedersachsen zu bewahren und die Bevölkerung für demokratiegefährdende Entwicklungen zu sensibilisieren sowie das bürgerschaftliche Engagement hiergegen zu stärken. Das schließt die Befugnis ein, Angriffe auf die Pressefreiheit und die Institution der Freien Presse im Rahmen der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit entschieden zurückzuweisen und die bürgerschaftlichen Kräfte zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundwerte zu ermutigen.
B. Sachverhalt
Der Niedersächsische Ministerpräsident der A-Partei hatte im November 2019 in diversen Tweets auf der Plattform Twitter seinen Unmut über eine Versammlung der B-Partei kundgetan. Dort hatte der A-Politiker die Partei u.a. als rechtsextrem bezeichnet und Bürger*innen dazu aufgerufen, sich der Versammlung entgegenzustellen. Der Landesverband der B-Partei sah in den Äußerungen sein Recht auf chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verletzt.
C. Anmerkungen
Der niedersächsische Staatsgerichtshof wies die Klage als unbegründet zurück, da die Antragsstellerin nicht in ihrem Recht auf chancengleiche Teilhabe am politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes verletzt ist. Die B-Partei ist eine vom BVerfG als verfassungsfeindlich eingestufte Partei, die indes nicht verboten wurde. Nach der Parteiverbotsnorm des Art. 21 Abs. 2 GG wurden ihr als Sanktion zur Ausnahme der Parteienprivilegierung einige Rechte abgesprochen, jedoch nicht das Recht auf chancengleiche Teilhabe am Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, sodass der persönliche Gewährleistungsbereich des Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG hier eröffnet ist. Auch der sachliche Gewährleistungsbereich ist eröffnet, da Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG im Rahmen der politischen Meinungsbildung des Volkes auch das Recht der politischen Parteien schützt, im Wege einer Versammlung auf ihre politischen Ziele hinzuweisen und für diese zu werben.
Das Recht politischer Parteien, gleichberechtigt an dem Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes teilzunehmen, ist verletzt, wenn Staatsorgane durch besondere Maßnahmen in amtlicher Funktion zu Lasten einer politischen Partei auf die politische Willensbildung des Volkes einwirken. Demnach liegt ein Eingriff vor, wenn Staatsorgane sich einseitig unter Missachtung des Neutralitätsgebots mit einer Ankündigung einer politischen Kundgebung einer Partei auseinanderzusetzen. Der Eingriff ist allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit betroffen ist. Die der Landesregierung obliegende Aufgabe der Staatsleitung schließt als integralen Bestandteil eine solche Befugnis ein. Die Landesregierung, sowie der Ministerpräsident als Teil von ihr, dürfen im Rahmen ihrer Informationsarbeit zur Wahrung und Verteidigung verfassungsrechtlich besonders geschützter wesentlicher Institutionen tätig werden. Darunter fällt auch die Meinungsäußerung verfassungsfeindliche Bestrebungen politischer Parteien auch als solche zu bezeichnen und darauf in angemessener Weise zu reagieren. Solche Einschätzungen werden erst unzulässig, wenn sie auf sachfremden Erwägungen beruhen und damit den Anspruch der betroffenen Partei auf gleiche Wettbewerbschancen willkürlich beeinträchtigen.
Dies liegt hier jedoch nicht vor, da selbst das BVerfG die Verfassungsfeindlichkeit der Partei ausdrücklich festgestellt hat und die Versammlung im konkreten Fall die Institutionsgarantie der freien Presse (Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 2. S. 1 NV) angreift. Dennoch müsse das Sachlichkeitsgebot gewährt sein, d.h verfälschende, herabsetzende Äußerungen zu unterlassen. Hier beruhten die Tweets allerdings auf wahren Tatsachengrundlagen, mithin nicht auf sachfremden Erwägungen. Das Urteil hat in Zeiten des Anstiegs verfassungsfeindlicher Strömungen besondere Bedeutung. Im Hinblick auf das Neutralitätsgebot der Staatsorgane stärkt der niedersächsische Staatsgerichtshof die Verteidigung der Verfassung durch die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs in die politische Chancengleichheit.
D. In der Prüfung
Begründetheit
I. Verletzung einer Rechtsstellung der Antragsstellerin
1. Gewährleistung der Rechtsposition
2. Eingriff
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit
c) Beachtung des Sachlichkeitsgebotes
E. Literaturhinweise
Zur Vertiefung: Grimmig/Rössig, Eingeschränktes Neutralitätsgebot bei der Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – Nds. StGH 6/19, HanLR 2/2021 Entscheidungen, S. 85-95.