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Entscheidung der Woche 08-2022 (ZR)

Patrick Glatz

Die im Rahmen eines allgemeinen „Lockdowns“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie staatlich verfügte vorübergehende Betriebsschließung ist kein Fall des vom Arbeitgeber nach § 615 S. 3 BGB zu tragenden Betriebsrisikos.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BAG – 5 AZR 211/21

in: NJW 2022, 560 (m. Anm. Marski)

NZA 2022, 182

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

Die im Rahmen eines allgemeinen „Lockdowns“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie staatlich verfügte vorübergehende Betriebsschließung ist kein Fall des vom Arbeitgeber nach § 615 S. 3 BGB zu tragenden Betriebsrisikos.


B. Sachverhalt

Die Parteien des Rechtsstreits sind die Beklagte, eine Unternehmerin, die ein Filialgeschäft für Nähmaschinen und Zubehör unterhält, und die Klägerin, die dort bei der Beklagten als geringfügig Beschäftigte gegen eine Vergütung von 432 € monatlich im Verkauf tätig ist. Aufgrund der „Allgemeinverfügung über das Verbot von Veranstaltungen, Zusammenkünften und Eröffnungen bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Corona-Virus“ der Freien Hansestadt Bremen vom 23.3.2020 musste der Betrieb der Beklagten vorübergehend schließen. Die Klägerin konnte infolgedessen nicht arbeiten und erhielt keinen Lohn. Mit ihrer Klage verfolgte die Klägerin die Zahlung des Entgelts für den Monat April 2020.


C. Anmerkungen

Das Urteil behandelt die im Corona-Kontext wichtige und examensrelevante Frage des Individualarbeitsrechts nach der Zahlung des Lohnes bei behördlich verfügter Betriebsschließung. Grundsätzlich gilt zwar „ohne Arbeit kein Lohn“ nach § 326 Abs. 1 BGB. Soweit also die täglich geschuldete Arbeitsleistung des Arbeitnehmers unmöglich geworden ist, entfällt der Lohnanspruch des Arbeitnehmers, da der Arbeitgeber von seiner Verpflichtung frei wird. Davon macht das Gesetz jedoch an einigen Stellen Ausnahmen, indem es den Anspruch des Arbeitnehmers trotzdem erhält. Dazu zählt auch § 615 BGB, der eine Erhaltung des Lohnanspruchs für den Arbeitnehmer vorsieht, wenn entweder der Arbeitgeber sich im Verzug der Annahme der Arbeitsleistung befindet oder aber der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalles zu tragen hat. Letzteres, also das sog. Betriebsrisiko, war im hier anzumerkenden Urteil Schwerpunkt der Prüfung des BAG.

Unter Betriebsrisiko wird allgemein zunächst dem Wortlaut des § 615 S. 3 BGB nach das Risiko des Arbeitgebers gefasst, seinen Betrieb nicht betreiben zu können. Diesen weiten Wortlaut hat die Rechtsprechung über die Jahre eingehegt. Als Betriebsrisiko wurden vor allem die Fälle äußerer Einwirkung durch höhere Gewalt oder Naturkatastrophen gefasst. Begrenzt wird die Lehre dort, wo sich das Wege- oder Lohnrisiko des Arbeitnehmers verwirklicht, eine Existenzgefährdung des Betriebes droht oder die Lehre vom Arbeitskampfrisiko greift. Dogmatische Grundlinie der Frage nach dem Betriebsrisiko, und darauf kommt es hier an, ist, welche nachteiligen Einwirkungen auf den Betrieb des Arbeitgebers dieser aufgrund seiner Organisations- und Leistungsgewalt und der damit verbundenen besseren Beherrschbarkeit und Kalkulierbarkeit der Risiken zu tragen hat. 

Das BAG hat sich in seiner Entscheidung nun zu der Frage positioniert, inwiefern auch behördlich verfügte Betriebsschließungen in die Risikosphäre des Arbeitgebers fallen. Dabei kommt es, nach einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit dem Schrifttum, zu dem Ergebnis, dass auf den Zweck der jeweiligen Maßnahme abzustellen ist. Die Behörde ordnete hier nicht die Schließung eines wegen einer betrieblichen Entscheidung besonders risikoreichen Betriebes an, sondern adressierte die Breite der Wirtschaft über ganze Branchenzweige hinweg. Damit realisierte sich nicht ein der unternehmerischen Entscheidung unterliegendes betriebliches Risiko, sondern ein „allgemeines Risiko“. Dass geringfügig Beschäftigte, anders als sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, nicht vom Kurzarbeitergeld profitieren, sei eine politische Entscheidung. Diese Lücke habe der Gesetzgeber zu füllen.

Letztere Einschätzung ist bemerkenswert, aber nicht neu für die Rechtsprechung der obersten Gerichte. Der BGH hatte in einem mietrechtlichen Fall  ähnliche Erwägungen angestellt (Az. XII ZR 8/21). Das Ergebnis des BAG ist dennoch nicht ohne Kritik geblieben. Das Urteil bietet eine gute Gelegenheit, sich wieder mit Anspruchserhaltungsnormen, hier insbesondere § 615 BGB, auseinanderzusetzen und die grundlegende Wertung der Betriebsrisikolehre aufzufrischen.


D. In der Prüfung

A. Anspruch auf Arbeitslohn gem. § 611a Abs. 2 BGB

1. Anspruch entstanden

II. Anspruch untergegangen

1. § 326 I

2. Aber: Anspruchserhaltung nach § 615 S. 1, S. 3?

a) Arbeitsverhältnis

b) Betriebsstörung (!)

c) Kein Vertretenmüssen einer Partei

d) Keine abweichende Vereinbarung

e) Rechtsfolge


E. Literaturhinweise

Preis/Mazurek/Schmid, Rechtsfragen der Entgeltfortzahlung in der Pandemie, NZA 2020, 1137;

Sagan/Brockfeld, Arbeitsrecht in Zeiten der Corona-Pandemie, NJW2020, 1112;

Preis/Temming, Individualarbeitsrecht § 44 Rz. 2082ff.

 
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