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Entscheidung der Woche 09-2020 (SR)

Lucas Haak

Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BGH 5 StR 466/19

in: NStZ-RR 2020, 40 f.

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt.

Mit den Werten des auf Gleichberechtigung […] angelegten deutschen Rechts ist es unvereinbar, das Ansprechen einer Frau durch einen anderen Mann auf der Grundlage einer Art von „Besitzanspruch“ als schwere Provokation auszulegen.


B. Sachverhalt

Anlässlich eines versehentlichen Beinahe-Remplers gegenüber der F machte O die Bemerkung, sie sei schön. Diese Situation schilderte F kurze Zeit später ihrem Freund T, welcher an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung leidet. T geriet über die Bemerkung des O in Wut und wollte die Angelegenheit „klären“. Zunächst stellte T den O zur Rede. Doch als dieser sich „uneinsichtig“ zeigte, schlug T dem. O ins Gesicht, zog anschließend ein Klappmesser und stach mit bedingtem Tötungsvorsatz mehrfach auf Os Oberkörper ein. Einerseits war sich T dem Unrecht seiner Taten bewusst, andererseits aber von dem Gedanken geleitet, F vor solchen Ansprachen schützen zu müssen. Die Billigung einer solchen Grenzüberschreitung sei mit dem in seiner Kultur vorherrschendem traditionellen Rollenverständnis unvereinbar. Als Passanten auf die Situation aufmerksam wurden, entfernte sich T vom Tatort. O überlebte schwerverletzt.

Hat sich T wegen versuchten Mordes strafbar gemacht?


C. Anmerkungen

Das LG verurteilte T wegen versuchten Totschlags gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB. O erstrebte mit der Revision die Verurteilung wegen versuchten Mordes gem. §§ 211 Abs. 1, Abs. 2, 1. Gr. 4. Var., 2 Gr. 1. Var., 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Totschlagversuchs gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB sind erfüllt. Damit eine Verurteilung wegen Mordversuchs gelingt, müsste T zusätzlich eines der o.g. Mordmerkale verwirklicht haben.

Hinsichtlich der Heimtücke argumentierte das LG, dass T zwar die Arg- und Wehrlosigkeit des O ausnutzte, ihm aber das erforderliche Bewusstsein fehlte. Voraussetzung sei nämlich, dass sich der Täter auch bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff auf Leib und Leben schutzlosen Menschen zu überraschen. T war aufgrund seiner Labilität jedoch durch die von ihm als Provokation aufgefasste Ansprache der F affektiert erregt gewesen. Der BGH hält dem entgegen, dass es nur darauf ankommen kann, dass der Täter den Bedeutungsgehalt für sein Opfer realistisch einzuschätzen weiß, was hier der Fall war. Trotz der psychischen Krankheit ergaben sich bei dem Tatgeschehen keine tatrelevanten Defizite, die die Fähigkeit der Einschätzung des T beeinträchtigten. Ferner hatte T auch vorgehabt, die Sache „zu klären“ und sah somit schon im Vorfeld Anlass für die anzubahnende Auseinandersetzung. Die Annahme der affektierten Spontanität kann damit nicht aufrecht gehalten werden.

Vielmehr ist ein für die Heimtücke noch fehlendes Ausnutzungsbewusstsein anzunehmen. Hinsichtlich der niedrigen Beweggründe führte das LG aus, dass T die Ansprache der F aufgrund seines kulturellen Hintergrundes als eigenes Versagen und Kränkung empfunden habe. Hinzu trete die niedrige Frustrationstoleranz und Affektiertheit des T, sodass es in einer Gesamtschau an subjektiven Mordmerkmalen fehle.

Der BGH folgt dieser Auffassung nicht. Vielmehr ist dem Menschenbild des GG ein Verständnis der Beziehungen von Mann und Frau, wie es der Angeklagte hat, fremd. Mit den Werten des deutschen Rechts ist es unvereinbar, das Ansprechen einer Frau durch einen anderen Mann auf der Grundlage einer Art von „Besitzanspruch“ als schwere Provokation auszulegen. Vielmehr stellt ein solches eklatanten Missverhältnisses zwischen Anlass und Tat nach hiesiger Rechtsauffassung einen niedrigen Beweggrund dar.


D. In der Prüfung

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a. Tatobjekt und -handlung

b. Kausalität und objektive Zurechnung

c. Obj. Mordmerkmal: Heimtücke

2. Subjektiver Tatbestand

a. Vorsatz

b. Sub. Mordmerkmal: Niedrige Beweggründe


E. Zur Vertiefung

Eser/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB-Kommentar, 30. Aufl. 2019, § 212 Rn. 25, 25a.

 
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