Entscheidung der Woche 09-2023 (ÖR)
Jasmin Wulf
Eingriffe in das Recht auf Chancengleichheit politischer Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, wenn sich die Legitimation zum staatlichen Handeln nicht schon unmittelbar aus der Verfassung ergibt.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerfG, Urt. v. 22.02.2023 – 2 BvE 3/19
in: becklink 2026185
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. Eingriffe in das Recht auf Chancengleichheit politischer Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, wenn sich die Legitimation zum staatlichen Handeln nicht schon unmittelbar aus der Verfassung ergibt.
2. Die Notwendigkeit einer besonderen gesetzlichen Regelung für staatliche Leistungen, die sich erheblich auf die chancengleiche Teilnahme der Parteien am politischen Wettbewerb auswirken, wird durch den Erlass eines Haushaltsgesetzes nicht genügt.
3. Die gegenwärtige staatliche Förderung parteinaher Stiftungen wirkt spürbar auf die politische Willensbildung ein und ist daher am Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien zu messen.
B. Sachverhalt
Das BVerfG hat über ein Organstreitverfahren der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) entschieden. Die AfD wendete sich mit ihren Anträgen dagegen, dass der Desiderius-Erasmus-Stiftung e.V. (DES) bislang an der staatlichen Förderung politischer Stiftungen auf Bundesebene in Form von Globalzuschüssen nicht beteiligt wird. Das Organstreitverfahren richtete sich gegen den Deutschen Bundestag, den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, die Bundesregierung, das Bundesministerium des Innern und für Heimat, und das Bundesministerium der Finanzen. Gegenstand des Organstreitverfahrens war die Frage, ob die AfD durch die bislang fehlende staatliche Förderung einer ihr nahestehenden Stiftung in ihrem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG und/oder aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist.
Die Förderkriterien sind bis heute nirgendwo gesetzlich geregelt; als Richtschnur gilt ein Karlsruher Urteil aus dem Jahr 1986. Darin steht, dass sichergestellt sein muss, dass „alle dauerhaften, ins Gewicht fallenden politischen Grundströmungen in der Bundesrepublik Deutschland angemessen berücksichtigt“ werden. Als geeigneter Anhaltspunkt soll dabei „eine wiederholte Vertretung“ der entsprechenden Partei im Bundestag sein, und zwar zumindest einmal in Fraktionsstärke. Daran hat sich die Politik seither orientiert. Die AfD war 2021 zum zweiten Mal nach 2017 in den Bundestag eingezogen, die DES bekommt aber nach wie vor kein Geld. Denn seit 2022 steht ein neuer Passus im Haushaltsgesetz, wonach die Zuschüsse „nur politischen Stiftungen gewährt werden, die nach ihrer Satzung und ihrer gesamten Tätigkeit jederzeit die Gewähr bieten, dass sie sich zu der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen.
C. Anmerkungen
Die Nichtberücksichtigung der DES bei der Zuweisung von Globalzuschüssen für die gesellschaftspolitische und demokratische Bildungsarbeit im Bundeshaushalt 2019 greift in das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG ein. Für die Rechtfertigung dieses Eingriffs bedarf es eines besonderen Parlamentsgesetzes, an dem es hier fehlt. Ein auf den Erlass des Haushaltsgesetzes 2019 bezogener Antrag hat daher Erfolg.
Auch wenn politische Stiftungen und Parteien rechtlich und organisatorisch unabhängige Institutionen seien und das Distanzgebot eingehalten werde, wonach Partei und ihr nahestehende Stiftung rechtliche und tatsächliche Distanz zueinander zu wahren haben, bestehe zwischen den jeweiligen Parteien und den von ihnen anerkannten politischen Stiftungen ein besonderes Näheverhältnis. Daraus ergäben sich relevante Vorteile aus der mit staatlichen Mitteln geförderten Tätigkeit der politischen Stiftungen für die ihnen jeweils nahestehende Partei im politischen Wettbewerb. Die Parteien profitieren im politischen Wettbewerb erheblich von der Arbeit der Stiftungen.
Auch wenn der von den Globalzuschüssen ausgehende Einfluss auf die politische Willensbildung im Einzelnen nicht messbar sei, würden dadurch die Reichweite der von der nahestehenden Partei vertretenen Grundüberzeugungen und Politikkonzepte jedenfalls potentiell erweitert und damit die Stellung der nahestehenden Partei im politischen Wettbewerb verbessert. Davon ausgehend stehe einer möglichen Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht der Antragstellerin bereits entgegen, dass es an einer hierfür erforderlichen gesetzlichen Grundlage fehlt, der Ausschluss im Haushaltsplan trage dem Gesetzesvorbehalt nicht Rechnung. Angesichts des Volumens der staatlichen Zuwendungen und der erheblichen Auswirkungen der Stiftungstätigkeit auf den Prozess der politischen Willensbildung und damit auf die Verwirklichung des Demokratieprinzips im Sinne des Grundgesetzes sei der Gesetzgeber verpflichtet, in abstrakt-genereller Weise die Kriterien für den Kreis der Empfänger staatlicher Stiftungsförderung und für die Höhe der Zuwendung zu regeln.
D. In der Prüfung
Organstreit, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG
I. Zulässigkeit
II. Begründetheit
Recht auf Chancengleichheit, Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG
1. Eingriff
2. Rechtfertigung
E. Literaturhinweise
Lenz, Verfassungsprozessrecht statt Geld für die AfD-nahe Stiftung, NVwZ 2019, 1016; BVerfG, Staatliche Förderung parteinaher Stiftungen, NJW 1986, 2497.