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Entscheidung der Woche 11-2023 (SR)

Dominik Stanislavchuk

Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potenzielle Fortbewegungswille.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: 5 StR 406/21

in: NJW 2022, 2422

NStZ 2022, 677

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potenzielle Fortbewegungswille.


B. Sachverhalt

Im August 2019 beschlossen I, B und D, die H zunächst nach Georgien und anschließend von dort aus zusammen nach Tschetschenien zu bringen. Sie sollte zum einen „aus der Schusslinie“ genommen, zum anderen zu einer den tschetschenischen Traditionen entsprechenden Lebensführung gebracht werden. Da den Angeklagten bewusst war, dass H sich dem nicht freiwillig beugen würde, spiegelten sie ihr vor, in Polen persönlich russische Pässe beantragen zu müssen. Tatsächlich sollte sie – auch um den sie suchenden deutschen Behörden ihren Verbleib zu verheimlichen – mit dem Auto zum Flughafen nach K und dann mit dem Flugzeug nach Georgien gebracht werden. Die Flugtickets besorgte der in den Plan eingeweihte A.

In der Nacht vom 27. auf den 28. August 2019 brachten I, B, D und A die gutgläubige H nach K. A kam dabei die Aufgabe zu, die Verbringung der ahnungslosen H abzusichern; H saß während der mehrstündigen Fahrt eingerahmt auf der Rückbank. Bei kurzen Fahrtpausen durfte sie sich – indes stets unter den Augen von I, B, D und A – im näheren Umkreis des Autos bewegen; im Falle eines Fluchtversuchs waren die Beteiligten bereit einzugreifen. Ihnen war bewusst, dass sich H – „jedenfalls“ solange das Auto in Bewegung war – nicht entfernen konnte. Sie wussten, dass sie sich der Reise bei Kenntnis der wahren Pläne widersetzt und bei nächster Gelegenheit das Weite oder die Hilfe Dritter gesucht hätte. Am Flughafen begleiteten die vier Beteiligten die weiterhin nichts ahnende H bis zur Flugabfertigung und Passkontrolle. Dadurch wollten sie verhindern, dass diese auf sich aufmerksam machen oder um Hilfe bitten können würde, falls sie im letzten Moment Kenntnis von dem tatsächlichen Reiseziel erlangte.

Nach der Landung erkannte H, dass sie nicht in Polen, sondern in Georgien war.

Strafbarkeit von I, B, D und A gem. §§ 239 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB?


C. Anmerkungen

Der BGH musste sich im vorliegenden Fall damit auseinander setzen, wie der Tatbestand der Freiheitsberaubung i.S.d. § 239 Abs. 1 StGB auszulegen ist. Es handelt sich hierbei um ein in der Klausursituation typisches Problem des § 239 StGB.

Nach einer im Schriftum weit verbreiteten Ansicht sei von § 239 StGB nur die aktuelle Fortbewegungsfreiheit geschützt. Der Freiheit wäre danach nur beraubt, wer sich zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt wegbewegen will, aber nicht kann. Weiter handele es sich nach dieser Ansicht um einen Spezialfall der Nötigung.Nach der Rechtsprechung des BGH und Teilen der Literatur schützt § 239 StGB indes auch die potenzielle persönliche Bewegungsfreiheit. Das bedeutet, dass der Tatbestand lediglich ein Handeln gegen den potenziellen Fortbewegungswillen voraussetzt. In diesen wird auch dann eingegriffen, wenn der von der Tathandlung Betroffene sich gar nicht wegbewegen will. Entscheidend ist, ob es ihm unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern. Dies ist der Fall, wenn der Betroffene sich ohne die vom Täter ausgehende Beeinträchtigung seiner Bewegungsmöglichkeit fortbegeben könnte, wenn er es denn wollte. Ob er seine Freiheitsbeschränkung realisiert, ist danach ohne Belang.

In dieser Entscheidung macht der Senat dabei vor allem deutlich, dass dieser keinen Anlass sieht, von der bisherigen Auslegung des Tatbestandes der Freiheitsberaubung abzuweichen. Dabei stützt der BGH sich unter anderem auf den Wortlaut der Norm. Dieser sei objektiv gefasst und ziele deshalb auf eine objektive Betrachtung ab. Eine als Zwang empfundene Willensbeugung wohne dem Begriff der Freiheitsberaubung in objektiver Hinsicht dabei nicht inne.  Ein – wie hier – zusätzlich durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis des Betroffenen ist im Übrigen nur ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung und für den potenziellen Fortbewegungswillen nicht relevant. Im vorliegenden Fall bejahte der BGH deshalb die Strafbarkeit von I, B, D und A gem. §§ 239 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB.


D. In der Prüfung

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) Objekt: Ein anderer Mensch

b) Tathandlung: Eingriff in die mögliche persönliche Bewegungsfreiheit durch Einsperren oder auf sonstige Weise

c) Tatbestandsausschließendes Einverständnis

d) Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 StGB

2. Subjektiver Tatbestand

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld

IV. Ergebnis


E. Literaturhinweise

Rengier, 23. Auflage 2022, StrafR BT II, § 22 Rn. 1 ff.;

Fischer, 67. Auflage 2020, § 239 Rn. 3a.

 

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