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Entscheidung der Woche 14-2023 (SR)

Clara Kittelmann

Mit Beginn der Sectio und Öffnung des Uterus handelt es sich bei dem Kind nicht mehr um eine Leibesfrucht i.S.d. § 218 StGB, sondern um einen geborenen Menschen i.S.d. §§ 211 ff. StGB.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: LG Berlin 532 Ks 7/16

in: MedR 2020, 844

 

A. Orientierungs- oder Leitsätze

1. Mit Beginn der Sectio und Öffnung des Uterus handelt es sich bei dem Kind nicht mehr um eine Leibesfrucht i.S.d. § 218 StGB, sondern um einen geborenen Menschen i.S.d. §§ 211 ff. StGB.

2. Der Umstand, dass ein Abbruch der Schwangerschaft gem. § 218a II StGB indiziert gewesen wäre, rechtfertigt die Tötung nach Geburtsbeginn nicht.


B. Sachverhalt

Ende 2009 wurde Zeugin S. ungeplant mit Zwillingen schwanger. Im Verlauf der Schwangerschaft wurde bei einem der Feten eine hochgradige Entwicklungsstörung von unvorhersehbarem Ausmaß infolge des sog. fetofatalen Transfusionssyndroms (FFTS) diagnostiziert. Der andere Zwilling zeigte dagegen eine normale Entwicklung. Daraufhin entschied sich die Schwangere, einen selektiven Fetozid, d.h. die Abtreibung des erkrankten Zwillings, vornehmen zu lassen.

Die Angeklagten - zwei mit diesem Eingriff betraute Geburtsmediziner - beschlossen, die zielgerichtete Tötung des mutmaßlich schwer hirngeschädigten Zwillings durch eine Kaliumchloridinjektion vorzunehmen, ein Schwangerschaftsabbruchsverfahren, das bei derartigen Risikoschwangerschaften - wie im Fall der Zeugin S. - wegen der damit verbundenen Gefahr, dass die injizierte Substanz auch in die Blutbahn des anderen Zwillings gelangt, grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Um den gesunden Zwilling genau diesem Risiko nicht auszusetzen, planten die erfahrenen Ärzte, den selektiven Fetozid unmittelbar im Zusammenhang mit der Geburt des gesunden Kindes während der bereits begonnenen Sectio (Kaiserschnitt) im Mutterleib durchzuführen. Die in solchen Risikoschwangerschaften gebotene Methode des selektiven Fetozids mittels Nabelgefäßverschlusses, die bis unmittelbar vor der Geburt möglich gewesen wäre, stand den Angeklagten mangels entsprechender Ausstattung ihres Klinikums nicht zur Verfügung. Nach Einsetzen der Wehentätigkeit in der 32. Schwangerschaftswoche setzten die Angeklagten ihr Vorhaben in die Tat um. In dem Bewusstsein, dass durch die Eröffnung der Gebärmutter auch für den geschädigten - jedoch lebensfähigen - Zwilling die Menschwerdung begonnen hatte, brachten sie zunächst das gesunde Kind zur Welt und töteten anschließend den erkrankten Zwilling. Im Nachhinein erklärten die Angeklagten, ihr Handeln sei von dem Gedanken beherrscht gewesen, im Interesse der Schwangeren den gesunden Zwilling unbedingt unversehrt zu entbinden.


C. Anmerkungen

Im Zentrum der Entscheidung steht die Frage nach dem Beginn des Menschenlebens i.S.d. § 212 StGB in dem besonderen Fall des selektiven Fetozids bei bereits begonnenem Kaiserschnitt. Das Landgericht Berlin führt in seiner Urteilsbegründung hierzu aus, dass mit der Eröffnung der Gebärmutter für beide Zwillinge die Geburt und damit auch der strafrechtliche Schutz der § 212ff. StGB begonnen habe. Folglich ende ab hier der Schutz als Leibesfrucht i.S.d. § 218a II StGB. Die Auffassung, der zufolge der Geburtsakt bei einer Sectio allenfalls bei Einzelkindern und bei Zwillingsschwangerschaften nur hinsichtlich des ersten Zwillings mit der Eröffnung des Uterus beginne, finde jedenfalls im vorliegenden Fall keine Anwendung. Grund dafür ist, dass die zur Untermauerung dieser Ansicht angeführten Möglichkeiten im Bereich der fetalen Chirurgie allesamt der Fortsetzung der Schwangerschaft dienen. Der fragliche Eingriff im vorliegenden Fall zielte jedoch gerade nicht auf eine solche Fortführung, sondern auf die Beendigung der Schwangerschaft betreffend beider Zwillinge ab. Zudem führe diese Sichtweise zu dem grundlegenden Problem, dass der durch die §§ 211 ff. StGB garantierte Lebensschutz im Falle einer Schnittentbindung bei Zwillingsschwangerschaften nur für eines der Zwillinge zum Zeitpunkt der Eröffnung des Uterus gelten würde und es in dieser Hinsicht zu zufälligen Ergebnissen käme, je nachdem, welcher Zwilling als "der erste" angesehen wird.

Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass im vorliegenden Fall keine Umstände vorlagen, die die Tat rechtfertigen oder entschuldigen könnten. Insbesondere komme bei dieser speziellen Vorgehensweise des selektiven Fetozids keine Rechtfertigung im Wege einer Pflichtenkollision in Betracht. Hierfür fehlt es an einer von dem geschädigten Zwilling ausgehenden Gefahr für den bereits entbundenen gesunden Zwilling oder die Kindesmutter. Ferner betont das Gericht, dass die Tatsache, dass ein Abbruch der Schwangerschaft gem. § 218a II StGB von der Schwangeren indiziert gewesen ist, die Tötung nach Geburtsbeginn nicht rechtfertigen vermag. Der Umstand, dass der Fetozid nicht durch einen Nabelschlussgefäßverschluss herbeigeführt wurde, begründe keine Pflicht der Angeklagten, durch die Tötung des geschädigten Zwillings den Zustand herzustellen, der im Falle eines rechtmäßig durchgeführten selektiven Schwangerschaftsabbruch bestanden hätte. Vielmehr hätten die Geburtsmediziner den sich bereits unter der Geburt befindlichen erkrankten Zwilling lebend zur Welt bringen müssen.


D. In der Prüfung

I. Tatbestand: Ein anderer Mensch i.S.d. § 212 StGB

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld: Keine rechtfertigende Pflichtenkollision


E. Literaturhinweise

Schönke/Schröder StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§211ff., Rdnr. 13.

 
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