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Entscheidung der Woche 16-2019 (ZR)

Patricia Meinking

Das Weiterleben eines Patienten, der bei pflichtgemäßem Verhalten des behandelnden Arztes früher gestorben wäre, stellt keinen ersatzfähigen Schaden dar.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BGH VI ZR 13/18


 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

Das Weiterleben eines Patienten, der bei pflichtgemäßem Verhalten des behandelnden Arztes früher gestorben wäre, stellt keinen ersatzfähigen Schaden dar.

Ein Arzt muss wegen der Lebenserhaltung seines Patienten durch künstliche Ernährung weder Schadensersatz noch Schmerzensgeld zahlen.


B. Sachverhalt

Der verstorbene Vater des Klägers war schwerkranker Demenzpatient und bewegungs- und kommunikationsunfähig. In den letzten beiden Jahren seines Lebens kamen Lungenentzündungen und eine Gallenblasenentzündung hinzu. Seit September 2006 wurde er über eine Magensonde künstlich ernährt. Er verstarb im Oktober 2011. Vor seinem Tod stand er unter Betreuung eines Rechtsanwalts. Der Beklagte betreute den Patienten hausärztlich. Der Patient hatte keine Patientenverfügung errichtet. Sein Wille hinsichtlich des Einsatzes lebenserhaltender Maßnahmen ließ sich auch nicht anderweitig feststellen.

Der Kläger macht geltend, die künstliche Ernährung habe spätestens seit Anfang 2010 nur noch zu einer sinnlosen Verlängerung des Leidens des Patienten geführt. Der Beklagte sei verpflichtet gewesen, das Sterben des Patienten durch Beendigung der Lebenserhaltung zuzulassen. Der Kläger verlangt aus ererbtem Recht Schmerzensgeld sowie Ersatz für Behandlungs- und Pflegeaufwendungen.


C. Anmerkungen

Der Bundesgerichtshof hat das klageabweisende Urteil des Landgerichts wiederhergestellt. Dem Kläger stehe kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu.

Dabei könne dahinstehen, ob der Beklagte Pflichten verletzt hat, denn es liege kein immaterieller Schaden vor. Es stünden sich die Möglichkeit des Weiterlebens mit krankheitsbedingtem Leiden durch die künstliche Ernährung und der Tod gegenüber, der bei Beendigung der Lebenserhaltung eingetreten wäre. Das menschliche Leben sei ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert stünde keinem Dritten zu. Daher könne, selbst wenn der Patient sein Leben als lebensunwert bewertet, auch ein leidensbehaftetes Weiterleben nicht als Schaden qualifiziert werden (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG).

Dem Kläger stehe darüber hinaus auch kein Anspruch auf Ersatz der Behandlungs- und Pflegeaufwendungen zu. Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen sei nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit der Lebenserhaltung und den krankheitsbedingten Leiden einhergehen, zu verhindern. Insbesondere seien sie nicht Zweck, um das vererbte Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.

Die Entscheidung unterstreicht, dass die Verfassung unabhängig vom Vorliegen einer Pflichtverletzung eine Einstufung von (Weiter-)Leben als Schaden generell nicht zulässt, auch wenn es sich um leidensbehaftetes oder vom Patienten als lebensunwert erachtetes Weiterleben handelt.


D. In der Prüfung

I. Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB

1. Schuldverhältnis (Behandlungsvertrag nach § 630a BGB)

2. Pflichtverletzung

3. Vertretenmüssen

4. Schaden

II. Ergebnis

Andere Ansprüche auf Schadensersatz scheiden mangels Vorliegen eines Schadens aus.


E. Zur Vertiefung

OLG München, Urt. v. 21.12.2017 – 1 U 454/17 (Vorinstanz);

Zum Arzthaftungsrecht:

Ahmadi, Grundzüge des Arzthaftungsrechts, ZJS 2019, 106ff.;

von Pentz, Aktuelle Rechtsprechung des BGH zum Arzthaftungsrecht, MedR 2018, 283ff.

 

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