Entscheidung der Woche 16-2022 (ÖR)
Aron Rössig
Die auf Art. 18 Abs. 2 S. 1 NV (Ordnungsgewalt der Landtagspräsidentin) gestützte Anordnung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Gebäuden des Niedersächsischen Landtages, einschließlich des Plenarsaals sowie der Sitzungs- und Besprechungsräume...
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: NStGH , Beschl. v. 27.9.2021 – StGH 6/20
in: NJW 2021, 3176
BeckRS 2021, 27796
NdsVBl 2021, 367
NVwZ 2021, 1606
NordÖR 2022, 16
A. Orientierungs- oder Leitsatz
Die auf Art. 18 Abs. 2 S. 1 NV (Ordnungsgewalt der Landtagspräsidentin) gestützte Anordnung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Gebäuden des Niedersächsischen Landtages, einschließlich des Plenarsaals sowie der Sitzungs- und Besprechungsräume, verletzt nicht das in Art. 12 S. 2 NV garantierte freie Mandat der Abgeordneten.
B. Sachverhalt
Gegenstand des Organstreitverfahrens waren drei Allgemeinverfügungen, mit denen die Antragsgegnerin, welche Präsidentin des Landtages ist, die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Gebäuden des Niedersächsischen Landtages, insbesondere im Plenarsaal, angeordnet hatte. Zwei der drei angegriffenen Verfügungen waren zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits außer Kraft. Die Allgemeinverfügungen stützte die Antragsgegnerin auf ihre Ordnungsgewalt nach Art. 18 Abs. 2 NV i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG. Die Antragssteller, zwei Abgeordnete im Niedersächsischen Landtag, sahen sich hierdurch in ihrer parlamentarischen Arbeit beeinträchtigt. Dabei rügten sie eine Verletzung von § 28 VwVfG, Art. 2 Abs. 2 GG sowie von ihnen zustehenden Abgeordnetenrechten aus Art. 12 S. 2 NV, Art 14 NV.
C. Anmerkungen
Der Antrag wurde verworfen. Die Antragssteller seien durch die geltende Allgemeinverfügung offensichtlich nicht in ihren organschaftlichen Rechten verletzt. Bezüglich der bereits außer Kraft getretenen zwei Allgemeinverfügungen bestehe kein Rechtsschutzinteresse mehr. Ferner sei im Hinblick auf die im Entscheidungszeitpunkt noch Maskenpflicht keine Antragsbefugnis gegeben. Die Antragssteller beriefen sich u.a. auf Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte, jedoch könne man im Organstreitverfahren nur die Verletzung organschaftlicher Rechte rügen. Eine Verletzung der Anhörungspflicht nach § 28 VwVfG komme mangels behaupteter Verletzung von Rechten und Pflichten aus der Niedersächsischen Verfassung auch nicht in Betracht.
Ferner wurde eine mögliche Verletzung von Art. 14 NV nicht hinreichend dargetan. Die Antragsteller hatten eine Verletzung ihrer Indemnität darin gesehen, dass ihnen bei einer Verweigerung der Maskenpflicht eine Ordnungsmaßnahme, wie zB. ein Ordnungsruf oder Sitzungsausschluss, drohen könnte. Das Sanktionsverbot aus Art. 14 S.1 NV gelte jedoch nur für Maßnahmen außerhalb des Landtages. Bezüglich einer Verletzung des freien Mandats aus Art. 12 S.2 NV sei der Antrag jedenfalls unbegründet. Es könne keine rechtlich relevante Beeinträchtigung in der Anordnung gesehen werden, soweit sich die Antragssteller in ihrem Rede- und Äußerungsrecht verletzt sähen. So sehe die Anordnung für alle Fälle der Wahrnehmung des verfassungsrechtlich garantierten Rederechts Ausnahmen vor. Hingegen berühre das Tragen einer Maske auf den Verkehrsflächen des Niedersächsischen Landtages die Kommunikationsbeziehung zu den Wählern. Wäre darin ein Eingriff in das freie Mandat zu sehen, so sei dieser jedenfalls gerechtfertigt.
Die Repräsentations- und die Funktionsfähigkeit des Parlaments seien Rechtsgüter von Verfassungsrang, die im vorliegenden Fall eine Rechtfertigung bieten würden. So diene die Maskenpflicht dem Schutz vor Infektionen und dadurch der generellen Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Landtages. Die Maskenpflicht sei insofern der Ordnungsgewalt der Antragsstellerin aus Art. 18 Abs. 2 S. 1 NV zuzuordnen und beruhe daher auf einer verfassungsrechtlichen Grundlage. Unter „Ordnungsgewalt“ versteht der NStGH „alle polizeipräventiven Maßnahmen, die der Abwehr einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Räumen des Landtages dienen.“ Es bestünden auch gegen die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme keine Zweifel.
Die Entscheidung macht klar, dass sich Landtagsabgeordnete auch an den NStGH wenden können. Im Rahmen der Zulässigkeit muss demnach zunächst beachtet werden, dass eine verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliegt, sodass die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1S. 1 VwGO nicht vorliegen. Abgeordnete können daher ihre verfassungsrechtlichen Rechte gegen die Ausübung der Polizeigewalt durch den Parlamentspräsidenten vor einem Landesverfassungsgericht verteidigen, auch wenn die Ausübung der Polizeigewalt sonst gegenüber externen Störern (z.B. Zuschauern) nichtverfassungsrechtlicher Art sind. Überdies bietet die Entscheidung didaktisch sowohl Anlass zur Wiederholung der Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 S. 2 VwVfG. Ebenfalls weist die Ordnungs- und Polizeigewalt des Landtagspräsidenten aus Art. 18 Abs. 2 S. 1 erhebliche Parallelen zu selbiger des Bundestagspräsidenten aus Art. 40 Abs. 2 S.1 GG auf, sodass v.a. das Staatsrecht anhand der Entscheidung repetiert werden kann.
D. In der Prüfung
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit des NStGH, Art. 54 Nr. 1NV, § 8 Nr. 6 NStGHG
II. Parteifähigkeit, Art. 54 Nr. 1NV, § 8 Nr. 6 NStGHG
III. Antragsgegenstand, § 30 NStGHG i.V.m. SS 64 Abs. 1, 67 S. 2 BVerfGG
IV. Antragsbefugnis, § 30 NStGHG i.V.m. § 64 Abs. 1 BVerfGG
V. Rechtsschutzbedürfnis
VI. Formvorschriften und Frist
B. Begründetheit
I. Verletzung des freien Mandats (Art. 12 S.2 NV)
1. Gewährleistungsbereich der Rechtsposition
2. Eingriff
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
II. Ergebnis
E. Literaturhinweise
Sachs, Entscheidungsbesprechung, Staatsorganisationsrecht: Freies Mandat des Abgeordneten, JuS 2022, 95;
Schoch, Die Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 VwVfG), Jura 2012, 26;
Klein, In: Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg), GG-Kommentar, 95. EL Juli 2021, GG Art. 40 Rn. 137ff.