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Entscheidung der Woche 18-2023 (ÖR)

Sirin Al Hakim

Einem Gemeinderat steht ein organschaftliches Abwehrrecht gegenüber Äußerungen anderer Organe oder Organteile während einer Gemeinderatssitzung aus § 32 Abs. 3 GemO in Verbindung mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue zu, wenn...

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: VGH Mannheim – 1 S 2686/21

in: NVwZ-RR 2023, 201

 

A. Orientierungs - oder Leitsätze

1. Einem Gemeinderat steht ein organschaftliches Abwehrrecht gegenüber Äußerungen anderer Organe oder Organteile während einer Gemeinderatssitzung aus § 32 Abs. 3 GemO in Verbindung mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue zu, wenn Äußerungen eines Gemeinderatsmitglieds ihm gegenüber den Tatbestand der groben Ungebühr nach § 36 Abs. 3 Satz 1 GemO erfüllen oder als Formalbeleidigung oder als Schmähkritik zu qualifizieren sind oder unsachliche Äußerungen gegenüber einem Gemeinderatsmitglied darstellen, die nicht zum Beratungsgegenstand gehören.

2. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Neutralitätspflicht eines Bürgermeisters im Verhältnis zu politischen Parteien und zum Sachlichkeitsgebot als allgemeiner Grenze der Äußerungsbefugnis bei öffentlichen Äußerungen eines kommunalen Amtsträgers in amtlicher Eigenschaft ist auf Redebeiträge eines Bürgermeisters in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung, die nicht in Wahrnehmung seiner Leitungsfunktion getätigt werden, nicht anwendbar.

3. Zur Abgrenzung zwischen einer Tätigkeit eines Bürgermeisters im Rahmen seiner Leitungsfunktion und einer politischen Teilnahme am Meinungskampf kommt es auf die konkreten Umstände der streitgegenständlichen Äußerung an.

4. Maßgeblich sind dabei - aus Sicht eines verständigen Bürgers - der konkrete Inhalt der Aussage und ihr Gesamtkontext. Zu berücksichtigen sind u.a. der äußere Rahmen der Aussage, eine etwaige Inanspruchnahme der Autorität des Amts und der Einsatz von mit dem Amt verbundenen Ressourcen.


B. Sachverhalt

Im Rahmen der Neubesetzungen der Ausschüsse des Gemeinderats der Stadt F kam es zu verbalen Auseinandersetzungen, u. a. auch zwischen dem Kläger K, Mitglied des Gemeinderats der Stadt F und dem Beklagten O, Oberbürgermeister und Vorsitzender des Gemeinderats. Im Laufe der Sitzung kritisierte der Kläger den von der Verwaltung erarbeiteten Beschlussvorschlag stark, da er demokratischen Grundsätzen widerspräche und verlangte dessen Entfernung von der Tagesordnung. Hierbei äußerte K folgenden Satz in Richtung des Gemeinderats: „Sie erklären mir, warum das gerecht ist und der Bürger auf der Straße sich nicht verarscht vorkommen soll, wenn wir hier solche Spielchen treiben." Hierauf antwortetet der Vorsitzende des Gemeinderats O: „Vielen Dank Herr K, ... ich glaube Gegenrede formal. Das ist schade, dass Sie das nicht verstehen, aber vielleicht hängt das auch am eingeschränkten Demokratieverständnis. Wir stimmen über Ihren Absetzungsantrag ab.“

Kläger K fühlt sich durch diese Aussage in seinen Rechten als Ratsmitglied verletzt, weil der Beklagte die ihn in seiner Rolle als Oberbürgermeister treffende Verpflichtung zur Sachlichkeit und Neutralität verletzt habe.


C. Anmerkungen

Das Gericht verneint im vorliegenden Fall einen Eingriff und somit die Verletzung der behaupteten Rechtsposition des Ratsmitglieds K durch die getätigte Äußerung des Oberbürgermeisters.

Die Rechtsposition des Klägers folgt aus dem freien Mandat in Verbindung mit dem ungeschriebenen Grundsatz der Organtreue. Bei Redebeiträgen eines Bürgermeisters hingegen ist seine Doppelrolle, die ihm im gemeindlichen Kompetenzgefüge zukommt, zu beachten. Er ist dabei einerseits Leiter der Gemeindeverwaltung und Vorsitzender des Gemeinderats. Andererseits ist er ein von den Bürgern direkt gewähltes Gemeinderatsmitglied mit einem kommunalpolitischen Mandat. Aus Letzterem resultiert das ihm zustehende Rederecht.

Das Gericht grenzt also zunächst ab, in welcher Funktion die Äußerung konkret getätigt wurde, um sodann die Grenzen für die Aussage zu konkretisieren. Hierbei stellt es fest, dass eine Stellungnahme im politischen Meinungskampf nur dann vorliegt, wenn nach außen hinreichend deutlich erkennbar ist, dass der Bürgermeister bei einer Äußerung nicht in Wahrnehmung seiner Leistungskompetenz im Gemeinderat handelte. Vorliegend kommt der VGH zu dem Ergebnis, dass der Bürgermeister die Äußerung in seiner Funktion als Ratsmitglied geäußert hat, sodass das freie Mandat in Verbindung mit dem Grundsatz der Organtreue die Grenzen für die Äußerung darstellen. Infolgedessen bringt das Gericht vor, dass die Äußerung des O keine Überschreitung dieser Grenzen darstellt. Die beanstandete Äußerung stellt, gemessen an den genannten Grenzen, weder eine unsachliche Äußerung noch eine Formalbeleidigung oder Schmähung gegenüber dem K dar. Auch werden durch die Aussage die Grenzen des Erträglichen nicht erheblich überschritten, sodass grobe Ungebühr ebenso abzulehnen ist.


D. In der Prüfung

I. Zulässigkeit der Klage

II. Begründetheit

1. Rechtsposition des Ratsmitglieds

2. Anforderungen an Äußerung des Bürgermeisters

a) Abgrenzung hinsichtlich der Tätigkeit des Bürgermeisters

b) Konkretisierung der Grenzen der Äußerungsbefugnis


E. Literaturhinweise

Milker, Äußerungen von Hoheitsträgern im Wahlkampf und darüber hinaus, JA 2017, 647;

Schlingloff, WiederkehrendeKlausurprobleme aus dem Kommunalrecht, ZJS 2022, 483.

 
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