Entscheidung der Woche 20-2021 (ÖR)
Daniel Müller
Das GG verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerfG, Beschl. v. 21.03.2021, 1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20 und 1 BvR 288/20
in: BeckRS 2021, 8946
A. Orientierungs- oder Leitsatz
Das GG verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen. Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Auch der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.
B. Sachverhalt
Am 19.12.2019 trat das Klimaschutzgesetz (KSG) des Bundes in Kraft. Mit ihm will der Gesetzgeber den Klimaschutzzielen der EU und den Vorgaben des Pariser Übereinkommens Rechnung tragen. § 3 KSG sieht u.a. eine schrittweise Minderung der Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % im Vergleich zu 1990 vor. Dafür sind zulässige Jahresemissionsmengen nach Sektoren festgelegt, vgl. § 4 Abs. 1 KSG. Den Beschwerdeführern aus dem In- und Ausland gehen die Regelungen des KSG nicht weit genug. Sie machen geltend, der Staat verletze wegen des unzureichenden Klimaschutzes seine Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 GG. Außerdem rügen sie eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG („ökologisches Existenzminimum“) und eine Verletzung von Art. 2 Abs 1 GG.
C. Anmerkungen
Die Regelungen des KSG verletzen die Beschwerdeführer (zu 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, 1 BvR 2656/18) in ihren Grundrechten.
Zwar hat der Gesetzgeber keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG folgenden Schutzpflichten gegenüber den Beschwerdeführern verletzt. Die Verletzung eines Grundrechts auf ökologisches Existenzminimum scheidet überdies von vornherein aus. Dagegen liegt eine Verletzung der Beschwerdeführer aus Deutschland jedenfalls in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit als Abwehrrecht vor. Die Entscheidung über die zulässige Emissionshöchtsmenge bis 2030 entfaltet bereits eine eingriffsähnliche Vorwirkung. Denn die derzeit zugelassenen CO2-Werte begründen eine unumkehrbare rechtliche Gefährdung künftiger Freiheitsbetätigungen. So führt ein schneller Verbrauch des CO2-Budegts zu einer kleineren Zeitspanne, innerhalb der mittels neuerer technischer Entwicklungen klimaneutrale Verhaltensweisen ermöglicht werden können. Dementsprechend sind in Zukunft empfindlichere Grundrechtsbeeinträchtigungen zu erwarten.
Diese eingriffsähnliche Vorwirkung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Die Reduktionslast, die die Beschwerdeführer nach 2030 erwartet, muss erleichtert werden, um so einen möglichst freiheitsschonenden Übergang zur Klimaneutralität zu gewährleisten. Doch nach dem Konzept des KSG müsste nach 2030 alsbald Klimaneutralität erreicht werden, um die Vorgaben des Pariser Übereinkommens einzuhalten. Konkret hätte der Gesetzgeber weitere Reduktionsmaßgaben über 2030 hinaus differenzierter und frühzeitiger festlegen müssen.
D. In der Prüfung
I. Zulässigkeit
II. Begründetheit
1. Verletzung der Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG (-)
2. Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich: Abwehrrechtliche Dimension
b) Eingriff: Eingriffsähnliche Vorwirkungen (!)
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
E. Zur Vertiefung
Gassner, Die verfassungsrechtliche Profilierung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen, NVwZ 2020, 29.