Entscheidung der Woche 22-2021 (SR)
Simon Künnen
An dem Geburtsbeginn als maßgeblicher Zäsur zwischen §§ 211 ff. StGB und § 218 StGB ist festzuhalten, weil das Kind gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburtsphase besonderen Schutzes – auch vor fahrlässigen Einwirkungen – bedarf.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BGH 5 StR 256/20
in: NJW 2021, 645
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. An dem Geburtsbeginn als maßgeblicher Zäsur zwischen §§ 211 ff. StGB und § 218 StGB ist festzuhalten, weil das Kind gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburtsphase besonderen Schutzes – auch vor fahrlässigen Einwirkungen – bedarf. Beginn der Geburt ist bei natürlichem Geburtsverlauf das Einsetzen der Eröffnungswehen.
2. Bei einem – vor Beginn der Eröffnungswehen vorgenommenen – Kaiserschnitt (sectio caesarea) beginnt die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der Beendigung der Schwangerschaft durch Entnahme des Kindes aus dem Mutterleib. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um ein Kind oder mehrere Kinder handelt.
B. Sachverhalt
M ist schwanger und erwartet Zwillinge. Bei einer Untersuchung stellt der behandelnde Arzt bei einem der Kinder eine Hirnschädigung fest. Der andere Fetus ist normal entwickelt. Die fachlich versierten Geburtsmediziner A und B klären die M über einen sogenannten Fetozid auf. Dabei wird nach der 34. Schwangerschaftswoche noch vor Einsetzen der Wehen die Nabenschnur verschlossen. Der Fetus stirbt daraufhin, verbleibt aber im Mutterleib.
Die M willigt in den Eingriff ein. Unerwartet setzen bereits in der 32. Schwangerschaftswoche die Wehen ein. A und B nehmen einen Kaiserschnitt vor. Sie öffnen den Mutterleib, entnehmen den gesunden Zwilling und töten den anderen durch Injektion von Kaliumchlorid Lösung.
A und B ist bewusst, dass sie sich damit über geltendes Recht hinwegsetzen.
C. Anmerkungen
Der Sachverhalt ist hier erheblich gekürzt, enthält aber den maßgeblichen Kern, der für die Entscheidung des BGH relevant gewesen ist. Entscheidend für die Frage der Strafbarkeit des A und B sind hier die Anwendungsbereiche der §§ 211 ff. StGB und des § 218 StGB. Ferner also galt es zu beantworten, ab wann das Kind im Leib der Mutter ein Mensch i.S.d. §§ 211 ff. StGB oder lediglich eine geschützte Leibesfrucht i.S.d. § 218 StGB ist. Die Beantwortung hat eine bedeutende Tragweite, denn die § 211 ff. StGB schützen – entgegen dem § 218 StGB – auch vor fahrlässigen Eingriffen (§ 222 StGB).
Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung und auch der h.M. geht der BGH auch weiterhin davon aus, dass bei einem normalen Verlauf einer Geburt der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB mit Einsetzen der Eröffnungswehen beginnt. Dies wird weithin damit begründet, dass das Kind gerade im kritischen Zeitraum der Geburt den stärkeren Schutz der §§ 211 ff. StGB genießen soll. Dem steht vor allem auch nicht entgegen, dass im Zivilrecht die Rechtsfähigkeit mit Beendigung der Geburt beginnt, denn Zivil- und Strafnormen verfolgen einen unterschiedlichen Regelungszweck.
Ungeklärt war bisher aber, wann der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB, mangels Eröffnungswehen, bei einem Kaiserschnitt beginnt. Die Literatur hatte bisher verschiedene Ansätze. Teilweise wurde vertreten, der Schutz solle bereits mit Einleitung der Narkose zur Öffnung der Bauchdecke beginnen. Herrschend wurde aber angenommen, maßgeblicher Zeitpunkt sei die Öffnung des Uterus. Dem schließt sich auch der BGH an.
Der BGH überträgt dabei ebenfalls den Gedanken, dass gerade während der Geburt das Kind besonders schützenswert sei. Wird der Uterus geöffnet, sei ein Abbruch des Geburtsvorgangs praktisch kaum noch mehr möglich. Die Narkose oder der anschließende Bauchschnitt würden dem entgegen nicht ein eindeutiges Ende der Schwangerschaft bewirken. Mithin sei dies der geeignete Zeitpunkt für die Zäsur – und das unabhängig davon, ob es sich um einen oder mehrere Feten handelt.
Gleichwohl bedürfte es über dieses objektive Element noch der subjektive Einschränkung, dass der Uterus zum Zwecke der dauerhaften Trennung des Fetus vom Mutterleib und der Beendigung der Schwangerschaft geöffnet werden muss. Denn medizinisch sei auch die Öffnung und anschließende Verschließung des Uterus aus fetalchirugischen Zwecken wenn auch selten dennoch möglich. In diesem Falle, in dem es gerade nicht um die Einleitung der Geburt ginge, solle auch der Anwendungsbereich der § 211 ff. StGB nicht eröffnet sein.
D. In der Prüfung
I. Strafbarkeit gem. § 212 Abs. 1 StGB
1. Objektiver Tatbestand
a) Taugliches Tatobjekt: anderer Mensch
[…]
E. Zur Vertiefung
Entscheidungsbesprechungen: Jäger, JA 2021, 342; Eisele, JuS 2021, 272;
Generell zur Abgrenzung der §§ 211 ff. StGB und dem § 218 StGB:Kaltenhäuser, JuS 2015, 785.