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Entscheidung der Woche 22-2022 (ÖR)

Nils Grimmig

Die Reichweite des Mitwirkungsrechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wird durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter begrenzt.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BGH 5 StR 146/19

in: BeckRS 2020, 20323

NJW 2020, 3260

NStZ 2021, 43

StV 2021, 496

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

1. Die Reichweite des Mitwirkungsrechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wird durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter begrenzt. Das Recht einer Fraktion aus § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT, im Präsidium mit mindestens einem Vizepräsidenten vertreten zu sein, steht unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten.

2. Die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG ist frei. Ein Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Steuerung und Einengung der Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG durch prozedurale Vorkehrungen scheidet daher aus.


B. Sachverhalt

Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG sieht für die Bestimmung des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter (Vizepräsidenten) eine Wahl durch den Bundestag vor. § 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT bestimmt darüber hinaus, dass jede Fraktion des Bundestages durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist.  Im 19. Bundestag (2017-2021) wurden in der konstituierenden Sitzung am 24. Oktober 2017 für alle Fraktionen – bis auf diejenige der AfD – im ersten Wahlgang die jeweils vorgeschlagenen Abgeordneten zu Stellvertretern und Stellvertreterinnen des Bundestagspräsidenten gewählt. Demgegenüber erhielt der zur Wahl vorgeschlagene Kandidat der AfD-Fraktion in keinem der drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit. Im Laufe der  Legislaturperiode schlug die AfD-Fraktion noch fünf weitere Abgeordnete für die Wahl zu Stellvertretern und Stellvertreterinnen des Bundestagspräsidenten vor, die jedoch ebenfalls in keinem der jeweils durchgeführten drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit erhielten. Die AfD-Fraktion rügt, dass keiner der von ihr vorgeschlagenen Abgeordneten zur Stellvertreterin oder zum Stellvertreter des Bundestagspräsidenten gewählt worden ist und der Bundestag keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl aus sachwidrigen Gründen geschaffen hat. Darin sieht sie eine Verletzung ihres Rechts auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sowie eines Rechts auf effektive Opposition und eine Verletzung des Grundsatzes der Organtreue.


C. Anmerkungen

Der Antrag der AfD-Fraktion ist offensichtlich unbegründet. Sie ist weder in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, noch kann sie sich auf ein Recht auf effektive Opposition oder auf den Grundsatz der Organtreue berufen.

Der AfD-Fraktion steht als Zusammenschluss von Abgeordneten im Deutschen Bundestag ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG zu, das auch den Zugang zum Präsidium des Bundestages umfasst. Indes wird dessen Reichweite durch die in Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG vorgesehene Wahl der Stellvertreter des Bundestagspräsidenten begrenzt. Das Grundgesetz sieht also ausdrücklich eine freie Wahl und kein davon losgelöstes Besetzungsrecht der Fraktionen vor. 

Die freie Wahl entspricht zudem dem freien Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und dem Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1, 2 GG. Damit unvereinbar wären jedoch Maßnahmen, die dazu führen würden, dass einzelne Abgeordnete unmittelbar oder mittelbar verpflichtet wären, ihre Wahlabsicht oder ihre Stimmabgabe offenzulegen oder gar zu begründen. Es sind diesbezüglich keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl aus sachwidrigen Gründen ersichtlich, die nicht auch zugleich in die Wahlfreiheit der Abgeordneten eingriffen. Mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben steht § 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT auch in Einklang. Dieser sieht zwar die Besetzung des Präsidiums mit mindestens einem Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin aus jeder Fraktion vor; dieses „Grundmandat“ im Präsidium steht jedoch gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT unter dem Vorbehalt einer Wahl durch die Mitglieder des Bundestages.

Das Grundgesetz enthält daneben zwar einen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition. Dieser bewahrt die Minderheit jedoch nicht vor Sachentscheidungen der Mehrheit und den Ergebnissen freier Wahlen. Der Grundsatz der Organtreue umfasst schließlich zwar das Gebot der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung im Verhältnis von Bundestag und Fraktionen. Doch es bestehen keine Hinweise auf eine gleichheitswidrige Handhabung des Vorschlagsrechts der AfD-Fraktion oder auf eine unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge durch den Bundestag und damit auch keine Anknüpfungspunkte für eine verfassungswidrige Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1, 2 GO-BT. 


D. In der Prüfung

Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 24 S. 1, 63 ff. BVerfGG

I. Zulässigkeit

II. Begründetheit

1. Verletzung des Rechts auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG

2. Verletzung eines Rechts auf effektive Opposition

3. Verletzung des Grundsatzes der Organtreue


E. Literaturhinweise

Hillgruber, Erfolgloses Organstreitverfahren der AfD-Bundestagsfraktion zur Wahl eines Vizepräsidenten/einer Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, JA 2022, 521;

Brocker in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck OK Grundgesetz, 50. Edition, Art. 40 Rn. 10 (Stand: 15.02.2022).

 

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