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Entscheidung der Woche 25-2020 (ÖR)

Jendrik Wüstenberg

Bei Anwendung des § 185 StGB auf Äußerungen im konkreten Fall verlangt Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung.

Aktenzeichen & Fundstelle

BVerfG, Beschl. v. 19.05.2020 - 1 BvR 1094/19

in: www.bundesverfassungsgericht.de

 

A. Orientierungssätze

Bei Anwendung des § 185 StGB auf Äußerungen im konkreten Fall verlangt Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung. Darauf aufbauend erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung einer strafgerichtlichen Verurteilung nach § 185 StGB im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen. Abweichend davon tritt ausnahmsweise bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf.


B. Sachverhalt (verkürzt)

Im Rahmen eines Steuerverfahrens erhielt der Beschwerdeführer u.a. ein an ihn persönlich gerichtetes Rundschreiben des damaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers Norbert-Walter Borjans. Dort heißt es unter anderem: „Steuern machen keinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif.“ Daraufhin äußerte sich der Be-schwerdeführer am Ende eines Schreibens an die Finanzbehörden, das neben inhaltlicher Gegenrede auch allgemein eine „Drangsalierung“ und „Tyrannisierung“ der Bürger seitens des Fiskus geltend machte, wie folgt: „Weitere Dienstaufsichtsbeschwerden behalte ich mir ausdrücklich vor. Sie jetzt zu erheben, dürfte allerdings sinnlos sein: Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt. Aber vielleicht führt ja die Landtagswahl im Mai 2017 hier zu Verbesserungen […]“. Wegen dieser Äußerung verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Beleidigung. Berufung und Revision blieben ohne Erfolg.


C. Anmerkungen

Das BVerfG setzt mit der vorliegenden Entscheidung seine ständige, differenzierte Rechtsprechung zum Gewährleistungsinhalt des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG fort. Eine Schmähkritik liegt nicht schon bei einer besonderen Ehrbeeinträchtigung vor, auch ausfallende Kritik erfordert grundsätzlich eine Abwägung. Eine Schmähung liegt erst dann vor, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung im Vordergrund steht. Liegt keine Schmähkritik vor, so ist Voraussetzung für eine strafrechtliche Sanktion eine grundrechtlich angeleitete Abwägung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere das Schutzbedürfnis der Machtkritik zu berücksichtigen, sodass Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträger in anklagender und personalisierter Wiese für ihre Machtausübung angreifen können. Ebenso zu berücksichtigen ist die Form der Äußerung sowie die Größe des Personenkreises, die Kenntnis von der Äußerung erlangen.

Der Sachbezug ergebe sich hier aus dem Umstand, dass das Schreiben des Ministers selbst die Angelegenheit aus dem technisch-administrativen Bereich löste und eine allgemeinpolitische Dimension aufwies. Die Begriffe „Null“ und „dilettieren“ gehörten evident nicht sozial absolut tabuisierten Schimpfwörtern, deren einziger Zweck Herabsetzung anderer ist. Je nach Kontext seien sie geläufige Ausdrucksmittel von Kritik. Walter-Borjans habe zudem selbst einen konkreten Anlass für die Reaktion gesetzt. Insofern hätten die vom Beschwerdeführer angegriffenen Entscheidungen die Bedeutung und Tragweite des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verkannt.


D. In der Prüfung

A. Schutzbereich

1. Persönlicher Schutzbereich

2. Sachlicher Schutzbereich

(P) Meinung/Abgrenzung zur Schmähkritik

B. Eingriff

C. Rechtfertigung

(P) Verhältnismäßigkeit: Wechselwirkungslehre


E. Zur Vertiefung

Epping, Grundrechte, 8. Auflage, S. 107ff.

 
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