Entscheidung der Woche 26-2024 (ÖR)
Sebastian Hielscher
Ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Willkürverbots in Betracht.
Aktenzeichen
BVerfG, Beschl. v. 17.5.2024
Az.: 2 BvR 1457/23
A. Orientierungssätze (d. Red.)
1. Ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Willkürverbots in Betracht.
2. Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht.
3. Gemessen daran verstößt die Entscheidung gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Willkürverbot, wenn sie keinerlei Ansätze sachgerechter Feststellungen und Erwägungen zur Täterschaft des Beschwerdeführers enthält, auf die bei einer Verurteilung nicht verzichtet werden kann.
B. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer erhielt am 29.12.2022 einen Bußgeldbescheid wegen des Vorwurfs, die zulässige Höchstparkdauer gem. Zeichen 314 mit Zusatzzeichen nach Anlage 3 StVO sowie § 13 Abs. 1, 2, § 49 StVO, § 24 Abs. 1, 3 Nr. 5 StVG und Nr. 63.3 BKat überschritten zu haben. Hiergegen erhob er Einspruch; das AG Siegburg verhängte in der Folge eine Geldbuße von 30 Euro. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Beschwerdeführer sein Fahrzeug gegen 14:30 Uhr geparkt und dieses sich bis 17:35 Uhr unbewegt auf dem Parkplatz befunden habe. Die Eigenschaft des Beschwerdeführers als Fahrer des fraglichen Fahrzeugs entnahm das Gericht den Angaben im Bußgeldbescheid und einer Auskunft des Fahreignungsregisters, nach welcher der Beschwerdeführer Halter des Fahrzeugs war. Der Beschwerdeführer selbst hatte zur Fahrereigenschaft geschwiegen. Das OLG Köln verwarf den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, durch das amtsgerichtliche Urteil in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt worden zu sein. Eine Beweisaufnahme des AG Siegburg habe in Bezug auf die Fahrereigenschaft nicht stattgefunden. Der schlichte Schluss von der Halter- auf die Fahrereigenschaft sei objektiv willkürlich. Die Verfassungsbeschwerde sei geboten, um der Willkür in nicht rechtsmittelfähigen Rechtssachen nicht "Tür und Tor" zu öffnen.
C. Anmerkungen
Die zweite Kammer des zweiten Senats nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Das angegriffene Urteil verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG in ihrer Ausprägung als Willkürverbot. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz und überprüft nicht die Auslegung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen in die Entscheidungen der Fachgerichte kommt aber unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Willkürverbots gem. Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht. Eine solche liegt aber nicht schon in jeder fehlerhaften Auslegung oder Anwendung des einfachen Rechts durch das Fachgericht. Vielmehr muss die fachgerichtliche Entscheidung nach den das Grundgesetz prägenden Gedanken nicht mehr verständlich sein und sich daher bei verständiger Würdigung der Schluss aufdrängen, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Dieser Maßstab gilt auch für die von den Gerichten vorgenommene Beweiswürdigung.
Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe stellt sich die Entscheidung des AG Siegburg als objektiv willkürlich dar. Sie enthält keinerlei sachgerechte Feststellungen und Erwägungen zur Täterschaft des Fahrzeughalters. Der Beschwerdeführer hatte sich insoweit auf sein Schweigerecht zurückgezogen; allein aus der Haltereigenschaft kann aber nicht generell auf seine Täterschaft geschlossen werden, wenn jegliche anderweitigen Beweisanzeichen fehlen. Da diese Auffassung auch in fachgerichtlicher Rechtsprechung sowie Literatur zum Straßenverkehrs- und Strafprozessrecht als einhellig anerkannt gelten kann, ist nicht auszuschließen, dass das AG bei sachgemäßer Verfahrensführung zu einer abweichenden Entscheidung gekommen wäre.
Da die Entscheidung wegen Verletzung des Art. 3 Abs. 2 GG verfassungswidrig ist, kann die mögliche Verletzung weiterer Verfassungspositionen (Etwa Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 4 GG oder die Garantien der EMRK) auf sich beruhen.
D. In der Prüfung
I. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
1. Zuständigkeit des BVerfG
2. Beschwerdefähigkeit
3. Beschwerdegegenstand
4. Beschwerdebefugnis (P): BVerfG keine Superrevisionsinstanz
5. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
6. Form und Frist
II. Begründetheit
1. Verletzung von Freiheitsrechten
2. Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG (P): Verstoß gegen das Willkürverbot
E. Literaturhinweise
BVerfGE 87, 273 (278 f.) m.w.N.
Lang, Dorothee: Das Willkürverbot - ein allzeit einsatzbereites Mittel des BVerfG, in: ZJS 2015, 39.