Entscheidung der Woche 28-2022 (ÖR)
Daniel Müller
Für den Bundeskanzler gelten die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise wie für die sonstigen Mitglieder der Bundesregierung.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerfG 2 BvE 4/20
in: BeckRS 2022, 13335
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. Für den Bundeskanzler gelten die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise wie für die sonstigen Mitglieder der Bundesregierung.
2. Aus der Kompetenzordnung innerhalb der Bundesregierung folgt zwar – verglichen mit den übrigen Kabinettsmitgliedern – ein gegenständlich weiteres Äußerungsrecht des Bundeskanzlers, nicht jedoch ergeben sich daraus andere Anforderungen mit Blick auf die Beachtung des Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebots.
3. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verleihen, müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann.
B. Sachverhalt
Im Februar 2020 fand im Thüringer Landtag die Wahl zum Ministerpräsidenten statt. Nachdem in den beiden ersten Wahlgängen keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Stimmenmehrheit erhielt, nominierte die FDP-Fraktion ihren eigenen Kandidaten K. Dieser wurde im dritten Wahlgang mit der erforderlichen einfachen Mehrheit gewählt. Auf den von der AfD-Fraktion nominierten Kandidaten entfielen keine Stimmen. Wegen dieser vermuteten Unterstützung durch Abgeordnete der A-Fraktion stieß die Wahl des K anschließend auf Kritik.
Bundeskanzlerin M – zu dieser Zeit Parteivorsitzende der CDU – äußerte sich auf einer Pressekonferenz in Südafrika wie folgt: „Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der A-Partei gewonnen werden sollen. Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss. Zumindest gilt für die CDU, dass sich die CDU nicht an einer Regierung unter dem gewählten Ministerpräsidenten beteiligen darf. […]“. Die antragstellende AfD sieht sich durch diese Äußerungen in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien verletzt.
C. Anmerkungen
Der Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG ist zulässig und begründet. Die angegriffenen Äußerungen verletzen das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG. Das Gebot staatlicher Neutralität schließt nicht aus, dass Regierungsmitglieder außerhalb ihrer amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf teilnehmen. Auch wenn eine strikte Trennung der Sphären von „Bundesminister“, „Parteipolitiker“ und „Privatperson“ nicht möglich ist, bleibt das Neutralitätsgebot im amtlichen Tätigkeitsbereich anwendbar.
Für eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit ist daher entscheidend, ob ein Regierungsmitglied bei der Beteiligung am politischen Meinungskampf auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Ressourcen oder auf die spezifische Amtsautorität zurückgreift. Für das Amt des Bundeskanzlers gelten dabei die gleichen Maßstäbe wie für die übrigen Regierungsmitglieder. Aus dem äußeren Rahmen der Äußerungen sowie ihrem Inhalt folgt, dass sie durch die Bundeskanzlerin in Ausübung ihres Amtes getätigt wurden. Insbesondere wies diese nicht darauf hin, dass sie sich zur Ministerpräsidentenwahl nicht in ihrer Eigenschaft als Kanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde. Inhaltlich beschränkt sich die Bundeskanzlerin nicht auf eine Bewertung der Ministerpräsidentenwahl und des Verhaltens der CDU-Abgeordneten. Vielmehr machte sie deutlich, dass sie die Beteiligung der AfD an der Bildung parlamentarischer Mehrheiten generell als demokratieschädlich erachtet und griff damit einseitig in den politischen Wettbewerb ein. Als Verfassungsgüter, die Eingriffe in die Chancengleichheit rechtfertigen können, kommen der Schutz der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung sowie das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft in Betracht. Beide vermögen die Äußerungen der Bundeskanzlerin jedoch ebenso wenig zu rechtfertigen wie die Befugnis der Bundesregierung zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit.
D. In der Prüfung
Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG
I. Beeinträchtigung der Chancengleichheit
1. Spezifische Inanspruchnahme von Amtsautorität
(P): Abgrenzung zwischen amtlichen und parteipolitischen bzw. privaten Äußerungen (!)
2. Einwirkung auf den politischen Wettbewerb
II. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
1. Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung (-)
2. Vertrauen in die Bundesrepublik in der Staatengemeinschaft (-)
3. Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit
E. Literaturhinweise
Barczak, Die parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern, NVwZ 2015, 1014;
Gröpl/Zembruski, Äußerungsbefugnisse oberster Staatsorgane und Amtsträger, Jura 2016, 268;
Milker, Äußerungen von Hoheitsträgern im Wahlkampf und darüber hinaus, JA 2017, 647;
Spitzlei, Die poltische Äußerungsbefugnis staatlicher Organe, JuS 2018, 856.