Entscheidung der Woche 29-2019 (SR)
Lucas Haak
Für die Dauerhaftigkeit des Verlustes der Gebrauchsfähigkeit eines Körperglieds kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob das Opfer eine ihm mögliche medizinische Behandlung nicht wahrgenommen hat.
Aktenzeichen & Fundstelle
BGH 5 StR 483/ 16
in: NJW 2017, 1763
A.Orientierungs- oder Leitsatz
Für die Dauerhaftigkeit des Verlustes der Gebrauchsfähigkeit eines Körperglieds kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob das Opfer eine ihm mögliche medizinische Behandlung nicht wahrgenommen hat.
B. Sachverhalt
In einem Asylbewerberheim kommt es zwischen T und O regelmäßig zu verbalen und tätlichen Auseinandersetzungen. Eines Abends ergreift T in seiner Wut ein Küchenmesser und sticht in Verletzungsabsicht mehrmals in Richtung des Kopfes und Halses des O. Dieser hebt zur Abwehr seine Hände und wird dort durch das Messer getroffen. In der Folge kommt es zu Schnittverletzungen an der linken Hand mit Durchtrennungen aller Beugesehnen von vier Fingern einschließlich der Nerven. Nach Feststellungen eines medizinischen Sachverständigen ist die linke Hand des O weitestgehend gebrauchsunfähig, eine wesentliche Besserung sei nicht mehr zu erwarten. Allerdings seien die Bewegungseinschränkungen zu einem wesentlichen Teil darauf zurückzuführen, dass O auf die erforderliche medizinische Nachsorge verzichtete. Eine neuro- und handchirurgische Konsultation hat O ebenso wenig durchführen lassen wie die angeratene Physiotherapie.
Hat sich T wegen schwerer Körperverletzung strafbar gemacht?
C. Anmerkungen
Zweifelsfrei ist der Grundtatbestand des § 223 Abs. 1 StGB erfüllt. Bezüglich der Voraussetzungen der Erfolgsqualifikation aus § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist festzuhalten, dass die weitgehende Unbrauchbarkeit der linken Hand in ihrer faktischen Wirkung auch ohne völligen Funktionsverlust derjenigen einer physischen Amputation entspricht, wobei das Grunddelikt conditio sine qua non für den Eintritt der schweren Folge war. Ferner hat T – wie oben festgestellt – im Rahmen des Gefahrenzusammenhangs ein absehbares rechtliches Risiko geschaffen, welches sich in den Handverletzungen des O realisierte. Zu problematisieren ist jedoch, ob und inwieweit dem O durch eine verweigerte Nachsorge ein den Gefahrenzusammenhang unterbrechendes Verschulden anrechenbar ist.
Im Schrifttum wird die Meinung vertreten, dass die Dauerhaftigkeit der schweren Folge dem Täter nicht zugerechnet werden kann, wenn deren Abmilderung durch das Opfer zumutbar gewesen wäre. Als Kriterium der anzustellenden wertenden Abwägung werden dabei namentlich die Erfolgsaussichten von (Folge-)Operationen und die damit verbundenen Risiken genannt. In causa wäre es O ohne weiteres möglich gewesen, eine solche Nachsorge zu beanspruchen, sodass der Gefahrenzusammenhang dieser Auffassung nach abzulehnen wäre. Dies überzeugt jedoch nicht. Unzweifelhaft knüpft die Strafschärfungan das Ausmaß der vom Täter schuldhaft herbeigeführten Rechtsgutverletzung an, für dessen Bewertung im Grundsatz der Zeitpunkt des Urteils maßgeblich ist. Dabei ist anzumerken, dass die Körperverletzung nicht ausschließlich Ursache des nicht wiedergutzumachenden Schadens sein muss. Indes kann das Unterlassen einer medizinischen Behandlung nicht dazu führen, die vom Täter herbeigeführten gravierenden Folgen als eigentlichen Gradmesser seiner Strafwürdigkeit auszugrenzen. Es würde jeglichem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, über den Gedanken der Zurechnung eine Art „Obliegenheit des Opfers“ zu konstituieren, sich ungeachtet dessen aus übergeordneter Sicht zumutbaren, wenn auch beschwerlichen Heilmaßnahmen zu unterziehen, um dem Täter eine höhere Strafe zu ersparen.
Dies lässt sich einerseits dadurch untermauern, dass dem irreversibel geschädigten Opfer ansonsten ggf. durch Gerichtsurteil bescheinigt werden würde, es sei nicht dauerhaft geschädigt, andererseits lässt die im Schrifttum vertretene Auffassung jeglichen überzeugenden rechtlichen Maßstab zur Beurteilung der „zumutbaren“ Risiken und Beschwerlichkeiten missen.
D. In der Prüfung
I. Grundtatbestand, § 223 Abs. 1 StGB
II. Erfolgsqualifikation, § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB
1. Eintritt der schweren Folge
2. Kausalität zwischen Grunddelikt und Folge
3. Gefahrenzusammenhang
E. Zur Vertiefung
Zum Gefahrzusammenhang s. Rengier, Strafrecht BT II, 20. Aufl. 2019, § 15 Rn. 27, § 16Rn. 4 ff.