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Entscheidung der Woche 29-2024 (ÖR)

Jasmin Wulf

In einem Organstreit- oder Verfassungsbeschwerdeverfahren obliegt es dem Antragssteller bzw. dem Beschwerdeführer substanziiert darzulegen, inwieweit der angegriffene Rechtsakt das Integrationsprogramm des Art. 23 Abs. 1 GG durch Überschreitung der Kompetenzen der Europäischen Union oder durch Preisgabe der integrationsfesten Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzt.

Aktenzeichen und Fundstelle

Az.: BVeriG, Beschl. v. 06.02.2024 - 2 BvE 6/23 und 2 BVR 994/23

Fundstelle: NVwZ 2024, 725

 

A. Orientierungssätze

1. In einem Organstreit- oder Verfassungsbeschwerdeverfahren obliegt es dem Antragssteller bzw. dem Beschwerdeführer, am Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrollvorbehalte substanziiert darzulegen, inwieweit der angegriffene Rechtsakt das Integrationsprogramm des Art. 23 Abs. 1 GG durch Überschreitung der Kompetenzen der Europäischen Union oder durch Preisgabe der integrationsfesten Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzt.

2. Gemessen am Maßstab des Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG ist nicht erkennbar, inwieweit die Zustimmung des deutschen Gesetzgebers zur Schaffung einer unionsrechtlichen Mindestsperrklausel von zwei Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Hinblick auf die deutsche Verfassungsidentität, hier auf den Grundsatz der Demokratie, prinzipiell ausgeschlossen sein sollte.

3. Die Europäische Union kann im Rahmen ihrer Befugnis aus Art. 223 Abs. 1 AEUV das Wahlrecht auch hinsichtlich Sperrklauseln regeln, die als das System der Verhältniswahl ergänzende Gestaltungsmittel grundsätzlich anerkannt sind. Der Unionsgesetzgeber hat bei der Abwägung der Belange der demokratischen Gleichheit und der Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments seinen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum in Anspruch genommen.


B. Sachverhalt

Das Organstreitverfahren durch die Antragstellerin "Die PARTEI" und die Verfassungsbeschwerde durch die Vorsitzende dieser betreffen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Beschluss (EU, Euratom) 2018/994 des Rates der Europäischen Union vom 13.7.2018 zur Änderung des dem Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20.9.1976 beigefügten Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlament (im Folgenden für den geänderten Beschluss: Direktwahlakt 2018). Art. 3 Abs. 2 des Direktwahlakts 2018 sieht die Einführung einer Sperrklausel in Höhe von mindestens 2 und maximal 5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen vor, die für Mitgliedstaaten mit Wahlkreisen von mehr als 35 Sitzen, darunter auch Deutschland, gilt. Das Zustimmungsgesetz wurde in Deutschland zwar von Bundestag und Bundesrat bereits beschlossen, der Bundespräsident hat die Ausfertigung des Gerichts aber entsprechend der Staatspraxis bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt. Die Antragsstellerin bzw. die Beschwerdeführerin rügten eine Verletzung ihrer Rechte auf Chancengleichheit der politischen Parteien und auf Gleichheit der Wahl. Die Änderung des Direktwahlakts berühre das in Art. 97 Abs. 3 GG geschützte Demokratieprinzip und damit die Verfassungsidentität und sei deshalb nicht mehr von der Kompetenz der Union umfasst.


C. Anmerkungen

Das Bundesverfassungsgericht hat die beiden Anträge verworfen, da die Antragsstellerin und die Beschwerdeführerin die Möglichkeit einer Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte nicht hinreichend substanziiert dargelegt haben. Zwar kann das Zustimmungsgesetz grundsätzlich einen tauglichen Gegenstand darstellen, insbesondere als völkerrechtlicher Vertrag ausnahmsweise auch vor dem Inkrafttreten. Die Antragsstellerin bzw. die Beschwerdeführerin müssen aber darlegen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maẞnahme kollidiert; die behauptete Rechtsverletzung muss möglich erscheinen. Werden im Rahmen eines Organstreit- oder Verfassungsbeschwerdeverfahrens Ultra-vires- oder Identitätsrügen erhoben, obliegt es dem Antragssteller bzw. dem Beschwerdeführer, am Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrollvorbehalte substanziiert darzulegen, inwieweit der angegriffene Rechtsakt das Integrationsprogramm des Art. 23 Abs. 1 GG durch Überschreitung der Kompetenzen der Union oder durch Preisgabe der integrationsfesten Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzt.

Im vorliegenden Fall fehlt diese Antrags- bzw. Beschwerdebefugnis aber. Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit bei solchen Zustimmungsgesetzen ergeben sich insbesondere aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG). Darüber hinaus dürfen sich deutsche Staatsorgane am Zustandekommen von Maßnahmen der Europäischen Union, die als Ultra-vires-Akte zu qualifizieren sind, weil sie die Kompetenzen der Union offenkundig überschreiten und zu einer strukturellen Verschiebung im Kompetenzgefüge führen. Eine solche Verletzung ist hier nicht erkennbar, insbesondere hat der Unionsgesetzgeber bei der Abwägung der Belange der demokratischen Gleichheit und der Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments seinen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum in Anspruch genommen.


D. In der Prüfung

Organstreitverfahren bzw. Rechtssatzverfassungsbeschwerde

(P) Zulässigkeit

1. Zuständigkeit

2. Beteiligtenfähigkeit

3. Tauglicher Gegenstand

4. (P) Antrags- bzw. Beschwerdebefugnis


E. Literaturhinweis

Sauer, Unions- und verfassungsrechtliche Fragen einer Sperrklausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, EuZW 2023, 792

 

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