Entscheidung der Woche 31-2021 (SR)
Clara Kittelmann
Einwilligungsfähig ist, wer nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande ist, Bedeutung und Tragweite des konsentierten Rechtsgutsangriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen, wobei umso strengere Anforderungen zu stellen sind, je gewichtiger der Angriff ist und je schwerer seine Folgen abzusehen sind.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BGH 5 StR 541/17
in: NStZ 2018, 537
BeckRS 2018, 570
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. Einwilligungsfähig ist, wer nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande ist, Bedeutung und Tragweite des konsentierten Rechtsgutsangriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen, wobei umso strengere Anforderungen zu stellen sind, je gewichtiger der Angriff ist und je schwerer seine Folgen abzusehen sind.
2. Bei der Bemessung einer Gesamtfreiheitsstrafe für Serientaten darf dem Angeklagten das Absinken seiner Hemmschwelle im Verlauf der Tatserie jedenfalls dann nicht zugute gehalten werden, wenn er von vornherein eine Vielzahl von Taten geplant hat.
B. Sachverhalt
Der Angeklagte hat sich unter Ausnutzung väterlicher Autorität und Vorspiegeln falscher Tatsachen in insgesamt 18 Fällen an seinen beiden Kindern vergangen. Unter mehrfachem Einsatz von Strangulationswerkzeug, im Einzelnen Stricke, Schals, Tücher sowie Lederbänder, würgte er die Kinder jeweils bis zum Eintritt von Atemnot. Diese sadomasochistischen Praktiken filmte bzw. fotografierte der Angeklagte, um sich an den Aufnahmen sexuell zu erregen. Der Tochter, welche ihrem Vater während dieser ersten Tatserie 13 Mal zum Opfer gefallen und zu jener Zeit höchstens zwölf Jahre alt war, täuschte er vor, ohne den Verkauf der Film- bzw. Fotoaufnahmen werde die Familie ihre Wohnung verlieren und auseinanderbrechen. Mitwirkungsbereitschaft erzwang der Angeklagte auch bei der etwa ein Jahr nach dem ersten Tatkomplex folgenden zweiten Tatserie, welche weitere fünf Taten zum Nachteil der nunmehr vierzehn Jahre alten Tochter umfasst. Unter Scheinidentitäten drohte er, ihr würden zunächst die Finger gebrochen und die Haare ausgerissen, woraufhin sie durch Überstülpen einer Plastiktüte erstickt werde, sofern sie nicht weitere Aufnahmen von sadomasochistischen Praktiken von sich erstellen lasse und übermittle.
C. Anmerkungen
Der BGH stellte in seinem Beschluss heraus, dass es hinsichtlich beider Tatserien einer differenzierteren Betrachtung einer Unwirksamkeit der Einwilligung der Tochter wegen Täuschung oder der Einwilligung beider Kinder wegen Sittenwidrigkeit i.S.v. § 228 StGB gar nicht bedarf. Nach Rechtsprechung und herrschender Lehre sei bei der Einwilligungsfähigkeit auf die geistige und sittliche Reife der verletzten Person, Bedeutung und Tragweite des gestatteten Rechtsgutsangriffs erkennen und sachgerecht beurteilen zu können, abzustellen.
Dabei seien umso strengere Anforderungen zu stellen, je gewichtiger der Angriff ist und je schwerer dessen Folgen abzusehen sind. Bezüglich der ersten Tatserie scheitere eine Rechtfertigung der Taten wegen Einwilligung der Opfer bereits an der Einwilligungsunfähigkeit beider Kinder. Es stehe außer Zweifel, dass dem zur Tatzeit zehn Jahre alten Jungen und seiner zwei Jahre älteren Schwester das erforderliche Urteilsvermögen in Bezug auf vom Täter nicht gänzlich kontrollierbare und somit zumindest abstrakt lebensgefährliche Würgehandlungen fehlt. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob Kinder unterhalb der Altersgrenze von 14 Jahren im Falle geringer wiegender Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit einwilligungsfähig sein können oder ob ihnen die Einwilligungsfähigkeit generell abzusprechen ist, sei in diesem Fall entbehrlich. Hinsichtlich der zweiten Tatserie sei die Mitwirkungsbereitschaft der mittlerweile 14-jährigen Tochter des Angeklagten mangels Freiwilligkeit rechtlich ohne Bedeutung. In der durch die den Taten vorangegangene Drohung geschaffene und von ihr als real empfundene Drucksituation, sah sich das Mädchen gezwungen, die Gräueltaten über sich ergehen zu lassen. Die insofern unfreiwillig erteile Einwilligung vermag eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit nicht zu rechtfertigen.
Darüber hinaus nahm sich der BGH in diesem Fall der Auswirkung des Seriencharakters von Taten bei der Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe an. Er führte diesbezüglich aus, dass bei wiederholter Tatbegehung zum Nachteil desselben Opfers ein Herabsinken der Hemmschwelle des Täters im Verlauf der Tatenjedenfalls dann nicht in Form eines mildernden Zumessungsgrundes zu dessen Gunsten wirken kann, sofern er von vornherein eine Vielzahl von Taten geplant hat. Insbesondere im Falle serienhaft begangener Missbrauchstaten könne jedoch grundsätzlich bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe i.R.v. § 46 Abs. 2 StGB eine nähere Auseinandersetzung dahingehend nötig und gegebenenfalls eine Verminderung des Schuldgehalts für die Folgetaten zu berücksichtigen sein.
D. In der Prüfung
I. Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit: Einwilligung, insb. § 228 StGB
III. Schuld
IV. Strafzumessung: Bestimmung des Schuldrahmens, § 46 StGB
E. Zur Vertiefung
Zur Einwilligung bei Körperverletzungen: Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, §§ Vor 32ff. Rn. 29ff;
Zur Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe bei Serientaten: Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Auflage 2017, Rn. 1210ff.