Entscheidung der Woche 32-2020 (ZR)
Moritz Stamme
Gewohnheitsrecht kann als dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle allgemeiner Art nur zwischen einer Vielzahl von Rechtsindividuen und in Bezug auf eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen entstehen, nicht aber beschränkt auf ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BGH – V ZR 155/18
in: BeckRS 2020, 4032
NJW 2020, 1360
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. Gewohnheitsrecht kann als dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle allgemeiner Art nur zwischen einer Vielzahl von Rechtsindividuen und in Bezug auf eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen entstehen, nicht aber beschränkt auf ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn.
2. In einem konkreten Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn kann ein Wegerecht nach dem BGB außerhalb des Grundbuchs nur aufgrund schuldrechtlicher Vereinbarung oder als Notwegrecht unter den Voraussetzungen des § 917 BGB entstehen.
3. Die im Sinne von § 917 Abs. 1 S. 1 BGB ordnungsmäßige Benutzung eines Gewerbegrundstücks kann es nach den Umständen des Einzelfalls erfordern, dass auf dem verbindungslosen Grundstücksteil Kraftfahrzeuge be- und entladen sowie gegebenenfalls auch abgestellt werden, so dass eine Zufahrt erforderlich ist; dies setzt aber in der Regel voraus, dass das Grundstück nach seinen konkreten Verhältnissen eine gewerbliche Nutzung größeren Umfangs erlaubt.
B. Sachverhalt (verkürzt & vereinfacht)
Die Kläger sind Eigentümer von Grundstücken, auf deren hinterem Teil sich (baurechtlich nicht genehmigte) Garagen befinden. Die Beklagte, die Eigentümerin des Grundstücks ist, über das die Garagen erreicht werden können, kündigt einen, in ihren Worten, seit über 30 Jahren bestehenden Leihvertrag für die Ausgestaltung eines schuldrechtlichen Wegerechts. Sie möchte den Weg durch eine bereits im Bau befindliche Toranlage sperren. Die Kläger verlangen aus einem zu ihren Gunsten bestehenden Wegerecht, hilfsweise einem Notwegerecht, von der Beklagten die Sperrung des Weges zu unterlassen.
C. Anmerkungen
Der BGH hat die Ansicht des Berufungsgerichts, dass eine jahrzehntelange Nutzung eines über Privatgrundstück führenden Weges zur Bildung eines örtlich geltenden Gewohnheitsrechts wohnheitsrechts, das ein objektives Recht darstelle und an das die Anwohner gebunden seien, führen könne, zurückgewiesen. Dafür müsse das Wegerecht eine abstrakt-generelle Regelung sein und über den Einzelfall hinausgehen. Allerdings sehe das BGB den Erwerb einer nicht im Grundbuch eingetragenen Grunddienstbarkeit nicht vor.
Der BGH bestärkt mit seinem Urteil seine Rechtsprechung zum sogenannten Inwiekenrecht, derzufolge auch Wegerechte gewohnheitsrechtlich entstehen und überdies nur örtlich begrenzt gelten können (sog. Observanz). Ein Notwegerecht gemäß § 917 BGB stelle strenge Anforderungen an die vorausgesetzte Notwehrlage. Aufgrund fehlender Tatsachen trifft der BGH zu der umstrittenen Frage, ob die jahrelange Duldung der Nutzung eines Grundstücks ein Notwegerecht begründen kann, keine Aussage. Dennoch konkretisiert er die Anforderungen an ein solches Notwegerecht gemäß § 917 BGB.
D. In der Prüfung
A. Anspruch auf Unterlassung der Sperrung des Wegs, §§ 1027, 1004 Abs. 1 S. 1 BGB
I. Beeinträchtigung des Wegerechts
1. Bestehen eines Wegerechts
a) dinglich (Grunddienstbarkeit, Nießbrauch, persönliche Dienstbarkeit)
aa) Entstehung durch Einigung und Eintragung, §§ 873, 1018 BGB
bb) Entstehung durch Gewohnheitsrecht
b) obligatorisch (Miet-, Leih- oder Pachtvertrag)
c) aus nachbarschaftlichem Gemeinschaftsverhältnis (sog. Notwegerecht, § 917 BGB)
2. Zwischenergebnis
II. Ergebnis
E. Zur Vertiefung
Zu der Inwiekenrecht-Rechtsprechung siehe BGH NJW-RR 2009, 311;
Im allgemeinen zum bürglich-rechtlichen Nachbarrecht siehe Henning/Honer, JuS 2016, 591.