Entscheidung der Woche 32-2023 (SR)
Anna Lange
Der Grenzwert von 1,1 Promille für die unwiderlegliche Vermutung absoluter Fahruntüchtigkeit gilt auch für "E-Scooter" mit einer Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az: BGH, Beschl. v. 13.04.2023 - 4 StR 439/22
in: BeckRS 2023, 9646; NStZ-RR 2023, 222
Vorinstanz: LG Oldenburg, Urt. v. 26.07.2022 - 3 KLs 210
Js 62777/20 (62/21)
A. Ortientierungs- und Leitsätze
1. Der Grenzwert von 1,1 Promille für die unwiderlegliche Vermutung absoluter Fahruntüchtigkeit gilt auch für "E-Scooter" mit einer Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h.
2. Der Grenzwert, von dem an eine absolute Fahruntüchtigkeit unwiderleglich indiziert ist, gilt für alle Kraftfahrer.
3. Ob an dieser pauschalen Betrachtung auch mit Blick auf die neu aufgekommene Fahrzeugklasse der Elektrokleinstfahrzeuge festgehalten werden kann, hat der Senat bisher offengelassen.
4. Die Frage, die das LG im Anschluss an die soweit ersichtlich einhellige obergerichtliche Rechtsprechung bejaht hat, bedarf auch hier keiner Entscheidung. Denn nach den Feststellungen handelte es sich bei dem vom Angeklagten geführten "E-Scooter" nicht um ein Elektrokleinstfahrzeug.
B. Sachverhalt
Der Angeklagte fuhr mit einem zuvor entwendetem "E-Scooter der Marke Ancheer" auf einem öffentlichen Geh- und Radweg. Eine ihm 75 Minuten nach Fahrtende entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,29 Promille.
C. Anmerkungen
Der BGH bestätigte die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr gem. § 316 StGB. Die Vorinstanz habe richtigerweise allein aus dem Wert der BAK von 1,29 Promille auf die absolute Fahruntüchtigkeit des Angeklagten geschlossen. Der Grenzwert, von dem an eine unwiderlegliche absolute Fahruntüchtigkeit indiziert sei, gelte nach der Rechtsprechung des BGH für alle Kraftfahrer, insbesondere auch für Fahrer von Krafträdern.
Im vorliegenden Fall habe es dabei keiner Entscheidung bedurft, ob an dieser pauschalen Betrachtung mit Blick auf die neu aufgekommene Fahrzeugklasse der Elektrokleinstfahrzeuge festgehalten werden kann. Diese Frage sei auch bisher von dem Senat offengelassen worden. Denn nach den Feststellungen habe es sich bei dem von dem Angeklagten genutzten "E-Scooter" nicht um ein solches Elektrokleinstfahrzeug gehandelt. Dies ergebe sich bereits daraus, dass der von dem Angeklagten geführte "E-Scooter" eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h erreichen konnte.
Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne des § 1 Abs. 1 eKFV (Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung) seien hingegen nur solche Kfz mit elektrischem Antrieb, deren bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr
als 20 km/h beträgt.
Ferner scheide auch eine Klassifizierung als sog. "Pedelec" und damit als Fahrrad des Straßenverkehrszulassungsrechts (§ 63a Abs. 2 StVZO) aus. Denn nach der in dem Urteil in Bezug genommenen Lichtbilder sei das Fahrzeug nicht mit Pedalen ausgestattet gewesen.
Der von dem Angeklagten geführte "E-Scooter" war also weder als ein Elektrokleinstfahrzeug noch als ein sog. "Pedelec" einzustufen. Demnach konnte die bisher nicht geklärte Frage, ob die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der Promille-Grenzwerte auch auf die neu aufgekommene Fahrzeugklasse der Elektrokleinstfahrzeuge Anwendung finden, offen bleiben. Der Senat musste diese Frage mangels Entscheidungserheblichkeit vorliegend nicht klären.
Im Ergebnis sei somit belegt, dass der Angeklagte ein Kfz führte, für das der Grenzwert von 1,1 Promille Geltung beanspruche. Angesichts seiner festgestellten BAK von 1,29 Promille sei der Angeklagte demnach fahruntüchtig gewesen.
Folglich hat sich der Angeklagte im Ergebnis wegen Trunkenheit im Verkehr gem. § 316 StGB strafbar gemacht.
D. In der Prüfung
Strafbarkeit gem. § 316 StGB
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Führen eines Fahrzeugs
b. Im Verkehr
c. Im fahruntüchtigen Zustand infolge des Genusses
aa. Alkoholischer Getränke (Alt. 1)
bb. Anderer berauschender Mittel (Alt. 2)
cc. Absolute Fahruntüchtigkeit
2. Subjektiver Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
E. Literaturhinweise
MüKoStGB/Pegel, 4. Auflage 2022, § 316 Rn. 43;
Hecker, JuS 2023, Strafrecht BT: Trunkenheitsfahrt des Beifahrers auf einem E-Scooter, S. 275;
Kerkmann, NZV 2023, Auf der Suche nach geltenden und erforderlichen Grenzen für E-Scooter, Fahrräder & Co., S. 25.