Entscheidung der Woche 33-2023 (ÖR)
Sophia Mustafoska
Eine einschneidende Veränderung der Verhältnisse, die eine Anhebung der absoluten Obergrenze zu rechtfertigen vermag, liegt nur vor, wenn Umstände eingetreten sind, die das Parteiensystem in seiner Gesamtheit betreffen, von außen auf die Parteien einwirken und...
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerfG 2 BvF 2/18
in: NJW 2023, 672
A. Orientierungs - oder Leitsätze (Auszug)
1. Eine einschneidende Veränderung der Verhältnisse, die eine Anhebung der absoluten Obergrenze zu rechtfertigen vermag, liegt nur vor, wenn Umstände eingetreten sind, die das Parteiensystem in seiner Gesamtheit betreffen, von außen auf die Parteien einwirken und den Bedarf an personellen und sachlichen Ressourcen zur Erfüllung der den Parteien durch Art. 21 I 1 GG übertragenen Aufgaben in einem deutlich spürbaren und von den Parteien aus eigener Kraft nicht leistbaren Umfang erhöhen.
2. Liegt eine einschneidende Veränderung der Verhältnisse vor, darf eine Anhebung der absoluten Obergrenze nur in dem Maße erfolgen, wie es zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Parteiensystems unerlässlich ist.
3. Die Erweiterung der Kommunikationswege und -möglichkeiten im Zuge der Digitalisierung sowie der verstärkte Einsatz innerparteilicher Partizipationsinstrumente stellen eine einschneidende Veränderung der Verhältnisse für die Wahrnehmung des den Parteien durch Art. 21 I 1 GG zugewiesenen Verfassungsauftrags dar.
B. Sachverhalt
Politischen Parteien werden staatliche Mittel als Teilfinanzierung des Auftrags, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, zur Verfügung gestellt. Die Verteilung der Mittel wird am Wahlerfolg, den Mitgliedsbeiträgen und den eingeworbenen Spenden der jeweiligen Partei gemessen. Die Höhe der staatlichen Teilfinanzierung darf bei einer Partei die jährlich selbst erwirtschafteten Einnahmen nicht überschreiten (relative Obergrenze). Das jährliche Gesamtvolumen staatlicher Mittel, das allen Parteien höchstens ausgezahlt werden darf (absolute Obergrenze), richtet sich nach einem Preisindex.
Für 2018 hätte die nach dem Index erhöhte absolute Obergrenze rechnerisch rund 165 Mio. EUR betragen. Mit Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze vom 10.7.2018 (PartGuaÄndG 2018; BGBl 2018 I 1116) im Juli 2018 wurde die absolute Obergrenze für die im Jahr 2019 vorzunehmende Festsetzung der an alle Parteien auszuzahlenden staatlichen Mittel für 2018 jedoch auf 190 Mio. EUR angehoben. Die Antragsteller aus den Fraktionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke wandten sich mit einer abstrakten Normenkontrolle gegen diese Erhöhung der absoluten Obergrenze und rügten eine Verletzung des in Art. 21 I GG verankerten Grundsatzes der Staatsfreiheit der Parteien.
C. Anmerkungen
Das BVerfG hat entschieden, dass Art. 1 PartGuaÄndG 2018 mit Art. 21 I 1 GG unvereinbar und nichtig ist. Art. 21 I 1 GG lässt insbesondere offen, inwieweit politischen Parteien bei der Wahrnehmung der ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Aufgaben finanziell vom Staat unterstützt werden dürfen. Das BVerfG beschränkte dies zunächst auf die Wahlkampfkostenerstattung, erlaubte dann jedoch auch eine Allgemeinfinanzierung. Diese dürfe allerdings keinen Umfang annehmen, der die Parteien vom Staat abhängig mache („Staatsfreiheit der Parteien“). Um dies zu verhindern, wurden die relative und absolute Obergrenze aufgestellt. Die Anpassung der Obergrenze an die allgemeine Preisentwicklung ist erforderlich und zulässig, ansonsten hätten die Parteien von Jahr zu Jahr effektiv weniger Mittel. Das betroffene Gesetz wählte jedoch einen anderen Weg und hebt unter Verweis auf die hohen Kosten für die Digitalisierung der Kommunikationswege, für den verstärkten Einsatz innerparteilicher Partizipationsinstrumente sowie für einige weitere Faktoren die Obergrenze pauschal um 25 Millionen Euro pro Jahr ab 2019 an.
Das BVerfG hat einer solchen „außerordentlichen“ Erhöhung in diesem Fall keine generelle Absage gemacht, stellt aber enge Vorgaben auf. Demnach ist eine Erhöhung über den Inflationsausgleich hinaus nur zulässig, wenn „Umstände eingetreten sind, die die Parteien in ihrer Gesamtheit betreffen (1), von außen auf die Parteien einwirken (2) sowie den Bedarf an personellen und sachlichen Ressourcen zur Erfüllung der den Parteien durch Art. 21 I 1 GG übertragenen Aufgaben nachhaltig in einem deutlich spürbaren und von den Parteien aus eigener Kraft nicht leistbaren Umfang erhöhen (3)“. Besondere Herausforderungen für einzelne Parteien können daher eine Erhöhung nicht rechtfertigen. Die Erhöhung muss sich auf das zur „Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Parteiensystems“ Unerlässliche beschränken und Einsparmöglichkeiten bedenken.
D. In der Prüfung
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
1. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die staatliche Teilfinanzierung politischer Parteien
a. Vermittlerrolle und Staatsfreiheit der Parteien
b. Absolute Obergrenze der Parteienfinanzierung
c. Anforderungen bei Anhebung der absoluten Obergrenze
d. Begründungspflicht im Gesetzgebungsverfahren
2. Verstoß durch Anhebung der absoluten Obergrenze
a. Erhöhter Finanzbedarf aufgrund veränderter Verhältnisse dem Grunde nach
b. Festlegung auf 190 Mio. €
III. Ergebnis
E. Literaturhinweise
NJW 2023, 672; JuS 2023, 474 (Professor Dr. Thomas Wischmeyer).