Entscheidung der Woche 33-2024 (ZR)
Hawa Etemadi
Eine Verantwortlichkeit des Gläubigers im Sinne der §§ 323 VI Fall 1 und 326 II 1 Fall 1 BGB kann auch dann anzunehmen sein, wenn die Auslegung des Vertrags ergibt, dass der Gläubiger das Risiko eines bestimmten Leistungshindernisses ausdrücklich oder konkludent übernommen hat und sich dieses Leistungshindernis verwirklicht.
Aktenzeichen und Fundstelle
Az.: BGH Urteil v. 25.06.2024 - X ZR 97/23
Fundstelle: NWB HAAAJ-72144
A. Orientierungs - oder Leitsätze
1. Eine Verantwortlichkeit des Gläubigers im Sinne von § 323 Abs. 6 Fall 1 BGB und § 326 Abs. 2 Satz 1 Fall 1 BGB kann auch dann anzunehmen sein, wenn die Auslegung des Vertrags ergibt, dass der Gläubiger nach der vertraglichen Gestaltung das Risiko eines bestimmten Leistungshindernisses ausdrücklich oder konkludent übernommen hat und sich dieses Leistungshindernis verwirklicht.
2. Die stillschweigende Übernahme eines Risikos kommt insbesondere in Betracht, wenn dieses schon bei Vertragsschluss bestanden hat und nur eine Vertragspartei in der Lage war, es abzuschätzen, oder wenn seine Verwirklichung von persönlichen Verhältnissen eines Vertragspartners abhängt, die der andere Teil nicht beeinflussen kann.
3. Eine stillschweigende Übernahme ist in der Regel zu bejahen, wenn der Gläubiger eine Luftbeförderung unter Ausschluss der nachträglichen Änderung des Beförderungszeitpunktes bucht, obwohl die zu befördernden Personen von einem für das Zielland seit längerem bestehenden Einreiseverbot betroffen sind, das an den Zweck der Reise oder sonstige persönliche Umstände anknüpft, und nicht absehbar ist, ob dieses Verbot vor dem vereinbarten Beförderungszeitpunkt aufgehoben wird.
B. Sachverhalt
Mitten in der Corona-Pandemie buchte eine Reiseagentur für ihre Kunden eine Flugreise von München in die USA und zurück. Zum Zeitpunkt der Buchung bestand bereits ein Einreiseverbot in die USA für Passagiere aus dem Schengen-Raum. Da das Einreiseverbot bis zum geplanten Abflug weiterhin galt, traten die Kunden die Reise nicht an. Die Reiseagentur verlangte daraufhin von der Fluggesellschaft die Rückerstattung des gezahlten Flugpreises. Der BGH entschied jedoch, dass die Reiseagentur keinen Anspruch auf Rückzahlung hat, da sie das Risiko des Leistungshindernisses durch das Einreiseverbot stillschweigend übernommen habe.
C. Anmerkungen
Der BGH befasst sich mit der Frage, inwieweit eine Reiseagentur zur Zahlung verpflichtet bleibt, wenn eine gebuchte Flugreise aufgrund eines bestehenden Einreiseverbots unmöglich wird. Der BGH entschied, dass die Reiseagentur kein Rücktrittsrecht gemäß § 326 Abs. 5 BGB habe, da sie das Risiko der Unmöglichkeit durch das Einreiseverbot übernommen habe. Dabei stellte der BGH zunächst fest, dass der Vertrag über die Erbringung der Flugreise als Werkvertrag im Sinne der §§ 631 ff. BGB einzustufen ist. Ein Werkvertrag verpflichtet den Unternehmer dazu, eine bestimmte Leistung zu erbringen, hier die Beförderung der Passagiere von einem Ort zum anderen. Als die Passagiere ihre Reise aufgrund des Einreiseverbots nicht antraten, betrachtete der BGH dies als einen konkludenten Rücktritt vom Werkvertrag, der auch für die Reiseagentur galt, da sie die Flüge für ihre Kunden gebucht hatte.
Ein zentraler Aspekt der Entscheidung war die Frage, ob der Reiseagentur ein Rücktrittsrecht nach § 326 Abs. 5 BGB zustand, da die Leistung unmöglich geworden war. Im Grundsatz erlöschen die gegenseitigen Leistungspflichten bei Unmöglichkeit nach § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB, sodass ein Rücktritt eigentlich überflüssig wäre. Der BGH prüfte trotzdem, ob ein solches Rücktrittsrecht bestand, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die Reiseagentur aufgrund ihrer Verantwortlichkeit für die Unmöglichkeit kein Rücktrittsrecht geltend machen konnte. Die Verantwortlichkeit der Reiseagentur wurde damit begründet, dass sie die Flüge zu einem Zeitpunkt buchte, als das Einreiseverbot in die USA bereits bestand und das Risiko der Fortdauer dieses Verbots erkennbar war. Der BGH führte aus, dass die Reiseagentur über bessere Erkenntnismöglichkeiten verfügte, um das Risiko zu beurteilen, da das Einreiseverbot nur für touristische Reisen galt. Die Reiseagentur war daher besser als die Fluggesellschaft in der Lage, einzuschätzen, ob die gebuchten Passagiere tatsächlich von dem Verbot betroffen wären. Diese bessere Einsichtsfähigkeit der Reiseagentur führte dazu, dass der BGH ihr die Verantwortung für die Unmöglichkeit der Flugreise zuschrieb und somit das Rücktrittsrecht verneinte.
Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung der Risikoverteilung in Vertragsverhältnissen, insbesondere unter unsicheren Bedingungen wie der Corona-Pandemie. Der BGH betonte, dass die Partei, die über die besseren Erkenntnismöglichkeiten verfügt, auch das Risiko tragen muss. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf ähnliche Fälle, in denen außergewöhnliche Umstände wie pandemiebedingte Maßnahmen zu einer Unmöglichkeit der Leistung führen können.
D. In der Prüfung
1. Vertrag
II. Leistungsbefreiung, § 275 BGB
III. Kein Ausschluss (P)
E. Literaturhinweise
MüKo-BGB/Ernst, § 326 Rn. 56
BeckOK-BGB/Schmidt, § 326 Rn. 14