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Entscheidung der Woche 36-2019 (ÖR)

Anna Ordina

Soweit das Versammlungsrecht abschließend Regelungen hinsichtlich der polizeilichen Eingriffsbefugnisse enthält, geht es als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: OVG Hamburg, Beschl. v. 29.03.2019 – 4 Bf 326/18.Z

in: BVerwG, Beschl. v. 03.05.2019 – 6 B 149.18

 

A. Orientierungssatz

1. Soweit das Versammlungsrecht abschließend Regelungen hinsichtlich der polizeilichen Eingriffsbefugnisse enthält, geht es als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor. Diese sog. „Polizeifestigkeit der Versammlungsfreiheit“ bedeutet nicht, dass in die Versammlungsfreiheit nur auf Grundlage des Versammlungsgesetzes eingegriffen werden kann, denn das Versammlungsgesetz enthält keine abschließende Regelung für die Abwehr aller Gefahren, die im Zusammenhang mit Versammlungen auftreten können.

2. Eine Ingewahrsamnahme zur Verhinderung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit setzt eine Gefahrenlage voraus, in der eine Störung mittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht.


B. Sachverhalt (verkürzt)

Am 7. und 8. Juli 2017 fand in Hamburg der G20-Gipfel statt. Damit ging eine Vielzahl an kritischen Veranstaltungen einher, die teilweise auch gewalttätige und unfriedlich verlaufende Versammlungen und Aufzüge umfassten. Für solche Vorfälle macht die Polizei insbesondere aus dem Ausland - auch aus Italien - eingereiste „Autonome“ verantwortlich.

Am Nachmittag des 8. Juli 2017 fand eine angemeldete Versammlung statt. Der Kläger, ein gemeldeter italienischer Staatsangehöriger, befand sich am 8. Juli 2017 in einer Gruppe von italienischen Staatsangehörigen. Einem Polizeibeamten fiel die Italienisch sprechende Gruppe auf. Er leitete die von einer Umschließung der Gruppe durch Polizeibeamte begleitete Überprüfung der Gruppenmitglieder ein. Bei der Durchsuchung des Klägers wurden ausweislich der von der Beklagten vorgelegten Einsatzunterlagen schwarze Kleidungsstücke festgestellt. Nachdem die Überprüfung von der Bühne aus kritisch kommentiert worden war, ordnete der Polizeibeamte die Ingewahrsamnahme der angetroffenen Personen einschließlich des Klägers an.

Bei einer Überprüfung wurde festgestellt, dass gegen den Kläger ein Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gestellt worden war, ohne dass es zu einem Strafverfahren gekommen wäre. Polizeiliche Erkenntnisse lagen gegen ihn ansonsten nicht vor. Der Kläger wurde am 9. Juli 2017 entlassen. Am 16. November 2017 hat der Kläger vor dem Verwaltungsgericht Klage erhoben.


C. Anmerkungen

Das Gericht stellte die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme fest. Die Polizeifestigkeit der Versammlung wirkt auch gegenüber EU-Ausländern. Der Grundrechtsschutz ergibt sich für Unionsbürger im Hinblick auf Art. 18 AEUV entweder aus Art. 8 Abs. 1 GG oder zumindest aus Art. 2 Abs. 1 GG. Auch liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ingewahrsamnahme bei der anzustellenden ex-ante-Betrachtung nicht vor. Tatsachen, die die Annahme begründeten, dass die Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat sofort oder in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten werde, hätten im Zeitpunkt der Maßnahme in Bezug auf den Kläger weder in Gestalt unmittelbarer Tatsachen noch in Form indizieller Tatsachen vorgelegen.


D. In der Prüfung

A. Zulässigkeit (+)

B. Begründetheit (-)

I. Ermächtigungsgrundlage

(P) Anwendbarkeit

Versammlungsrecht als lex specialis; NPOG subsidiär; „Polizeifestigkeit der Versammlung“

II. Formelle Rechtmäßigkeit

III. Materielle Rechtmäßigkeit

(P) Gefahrenlage setzt Störung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit voraus


E. Zur Vertiefung

Fallbearbeitung und Erläuterung: Wüstenbe-cker, RÜ 08/2019, 525f.

 

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