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Entscheidung der Woche 36-2022 (SR)

Laura Schlunk

Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potenzielle Fortbewegungswille.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az: BGH 5 StR 406/21

in: NJW 2022, 2422

BeckRS 2022, 16360

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potenzielle Fortbewegungswille.


B. Sachverhalt

Die Geschädigte (H) heiratete im Oktober 2018 einen Mann tschetschenischer Herkunft. Dieser und auch ihre eigene Familie lebten nach traditionellen tschetschenischen Lebens- und Wertevorstellungen, während das Leben der H mehr von westlichen Werten geprägt war. Daraus ergaben sich vermehrt Probleme und H zeigte ihren Ehemann unter anderem wegen Vergewaltigung und Körperverletzung an. Nachdem H von ihrer Familie entfernt und unter Polizeischutz gestellt wurde, war sie der Verurteilung ihres Verhaltens und Todesdrohungen ausgesetzt. Im August 2019 planten die Angeklagten (I, B, D) die H und ihre jüngere Schwester gegen deren Willen nach Tschetschenien zu fliegen, um ihnen dort die tschetschenische Lebensführung näher zu bringen. Unter dem Vorwand, in Polen einen neuen russischen Pass beantragen zu müssen, fuhren sie die beiden Geschädigten mit dem Auto zum Flughafen. Dabei waren sie sich bewusst, dass H sich nicht aus dem fahrenden Auto entfernen konnte und sich den Plänen der Angeklagten bei deren Kenntnis widersetzen würde. Erst bei der Landung des Flugzeuges wurde H das Ziel der Angeklagten bewusst. Sie sah zunächst keinen anderen Ausweg, als sich ihnen zu fügen, verkündete aber am nächsten Tag bereits lautstark, wieder nach Deutschland zurück zu wollen. Daraufhin schlug B sie mit einem Gummischlauch und erteilte H einen dreitägigen Hausarrest, um eine mögliche Flucht zu verhindern.

Haben sich I, B und D der gemeinschaftlichen Freiheitsberaubung nach §§ 239, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht?


C. Anmerkungen

Der BGH bestätigte mit seiner Entscheidung die Verurteilung der Angeklagten wegen Freiheitsberaubung nach § 239 StGB durch das Landgericht Berlin. Dabei war fraglich, inwiefern das durch Täuschung bei H hervorgerufene Einverständnis eine tatbestandsausschließende Bedeutung hat. Eine Ansicht stellt dabei im Rahmen der Freiheitsberaubung lediglich auf die aktuelle Fortbewegungsfreiheit ab. Diese läge nur vor, wenn die geschädigte Person sich im konkreten Zeitpunkt fortbewegen will, dies jedoch nicht kann. Nach dieser Wertung, wäre der § 239 StGB lediglich ein Spezialfall der Nötigung gemäß § 240 StGB.

Dieser Ansicht widerspricht der BGH. Er stellt vor allem darauf ab, ob es dem Betroffenen möglich wäre, seinen Aufenthalt beliebig zu verändern, oder ob mit einer Beeinträchtigung durch den Täter zu rechnen ist. Für diese Ansicht spreche der Wortlaut der Norm, welcher die Bewegungsfreiheit als objektives Kriterium darstelle. Eine als Zwang empfundene Willensbeugung sei nicht erforderlich, vielmehr müsse ein Handeln gegen den potenziellen Fortbewegungswillen vorliegen. Einen bloßen Spezialfall des § 240 StGB lehnt der BGH ebenfalls ab mit dem Argument, dass sich der Gesetzgeber systematisch dazu entschieden habe den § 239 vor der Nötigung zu regeln. Auch die Bedeutsamkeit der persönlichen Fortbewegungsfreiheit ginge bei einer solchen Wertung verloren. Ein tatbestandsausschließendes Einverständnis liege damit ebenfalls nicht vor. Dagegen spreche die hier fehlende erforderliche Einigung zwischen der geschädigten Person und dem Freiheitsentziehenden. Diese müssten sich über Ausmaß und Dauer der Freiheitsentziehung einig geworden sein. Eine bewusste Täuschung sei lediglich eine Möglichkeit, um einen zu erwartenden Widerstand zu verhindern und könne somit nicht zum Ausschluss des objektiven Tatbestandes führen.

Im konkreten Fall entschied der BGH, dass die potentielle Bewegungsfreiheit der H verletzt sei. Die Möglichkeit einer Flucht bei kurzen Fahrtpausen oder am Flughafen sei unbeachtlich, da sich H aufgrund der Täuschung nicht fortbewegen wollte. Ihr potentielle Fortbewegungswille sei aber spätestens bei Kenntnis der wahren Umstände deutlich geworden.


D. In der Prüfung

§ 239 Abs. 1 StGB

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) Tatobjekt: Anderer Mensch

b) Tathandlung: Einsperren/auf sonstige Weise der Freiheit berauben

2. Subjektiver Tatbestand

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld


E. Literaturhinweise

Eisele in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2021, § 239 Rn. 6a;

Wieck-Noodtin: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2019, § 239 Rn. 26-30;

Valeriusin: v. Heintscher-Heinegg, Beck’scher Online Kommentar StGB, 53. Edition 2022, § 239 Rn. 6-8.

 

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