Entscheidung der Woche 38-2021 (ÖR)
Aron Rössig
Bei der Entscheidung, ob Minderjährige im Verfassungsbeschwerde- verfahren prozessfähig sind müssen insbesondere die Regelungen des einschlägigen Fachrechts berücksichtigt werden, soweit sie die betroffenen Grundrechte in zulässigem und hinreichendem Umfang ausgestalten.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerfG 2 BvR 2000/20
in: BeckRS 2021, 25190
openJur 2021, 26072
A. Orientierungs- oder Leitsatz
1. Bei der Entscheidung, ob Minderjährige im Verfassungsbeschwerdeverfahren prozessfähig sind müssen insbesondere die Regelungen des einschlägigen Fachrechts berücksichtigt werden, soweit sie die betroffenen Grundrechte in zulässigem und hinreichendem Umfang ausgestalten.
2. Der verfassungsmäßige Anspruch auf die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes verlangt, dass ein gerichtlich gewährter Rechtsschutz sich an dem Rechtsschutzziel des Betroffenen orientiert und dem Willen des Betroffenen entspricht. Legt ein Gericht Erklärungen in einer Weise aus, die das erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt und verstellt es sich dadurch die an sich gebotene Sachprüfung, so liegt darin eine Rechtswegverkürzung, die den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
B. Sachverhalt
Gegenüber dem damals fünfzehnjährigen Beschwerdeführer wurden zwei Unterbringungsbeschlüsse ausgesprochen, da es häufig zu gewalttätigen Konflikten mit seinen Eltern gekommen war. Überdies hatte dieser angedroht, sich das Leben zu nehmen. Im Zuge dessen hat das Familiengericht zwei Unterbringungsbeschlüsse ausgesprochen. Der erste Beschluss legte die Unterbringung im Bezirkskrankenhaus bis Ende Juni 2020 fest. Der zweite Beschluss verlängerte die Unterbringungsgenehmigung. Die beiden Unterbringungsbeschlüsse wurden vom Minderjährigen mit einer Beschwerde angegriffen, welche allein auf das Aktenzeichen des Verfahrens zum zweiten Unterbringungsbeschluss Bezug nahm. Während des Klinikaufenthaltes hatte dieser den Wunsch kundgetan, in eine andere Klinik verlegt zu werden. Nach den Angaben des Fünfzehnjährigen hätten ihm die Ärzte zu verstehen gegeben, dass seinem Gesuch nur abgeholfen werden könne, sofern er seine Beschwerde gegen den zweiten Unterbringungsbeschluss zurücknehme oder sie lediglich auf die Änderung des Klinikortes beschränke. Bei darauffolgender Rücknahme des Beschlusses erläuterte dieser, dass eine von ihm gewünschte Verlegung nach Auskunft der Ärzte nur am nächsten Tag möglich sei, sodass er seine Beschwerde unter der Kondition zurücknimmt, den Beschluss auf eine geschlossene jugendpsychiatrische Einrichtung abändern zu wollen.
Später wollte der Jugendliche beim OLG München die Rechtswidrigkeit des ersten Unterbringungsbeschlusses feststellen lassen, was ohne Erfolg blieb. So habe er im vorliegenden Verfahren keinen Feststellungsantrag gestellt, hingegen sei sein Antrag als Gegenvorstellung auszulegen. Mangels Feststellungsinteresses sei dieser aber unbegründet. Durch die Änderung des Beschlusses kam das OLG zum Ergebnis, eine Rechtsverletzung abzulehnen. Es hat die Rücknahme der Beschwerde insoweit als Akzeptierung seiner Unterbringung gedeutet.
Schließlich wandte sich der Beschwerdeführer an das BVerfG und rügte eine Verletzung seiner Grundrechte auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.
C. Anmerkungen
Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Durch die Entscheidung des OLG sei der Minderjährige in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt worden. Das BVerfG zweifelte bereits daran, dass der Auslegung des Feststellungsantrags als Gegenvorstellung den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG genüge. Es käme nämlich auch ein isolierter Feststellungsantrag in Betracht. Zumindest – so das BVerfG – verletze die Würdigung des OLG den Jugendlichen in seinem verfassungsrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Indem das OLG die Rücknahme des zweiten Unterbringungsbeschlusses in der Weise gedeutet habe, dass der Jugendliche eine Unterbringung akzeptiert habe und damit kein Feststellungsinteresse an der Rechtswidrigkeit des ersten Unterbringungsbeschlusses vorweise, habe das OLG dem Jugendlichen unterstellt, die gesamte Unterbringung akzeptiert zu haben. Dies gleiche einem Rechtsmittelverzicht. Schon nach dem Wortlaut der Erklärung über die Rücknahme des Fünfzehnjährigen beziehe sich diese nur auf den zweiten (und nicht den ersten) Rücknahmebeschluss, was man daran erkenne, dass nur das Aktenzeichen des zweiten Unterbringungsbeschlusses angeführt wurde, nicht hingegen des ersten. Hinzu komme laut BVerfG, dass Anhaltspunkte gegeben seien, die auf eine Drucksituation zum Zeitpunkt der Rücknahmeerklärung haben schließen lassen. Es läge sehr nahe, dass sich der Beschwerdeführer dem Druck der Ärzte gebeugt habe und die Rücknahme der Beschwerde gegen den zweiten Beschluss nur erklärt habe, um zumindest seine Verlegung in eine andere Klinik durchbringen zu können. Daher sei es fernliegend, dass er mit seiner Erklärung einen Rechtsmittelverzicht bezüglich der vorangegangenen Unterbringung erzielen wollte.
Das Urteil bietet Anlass, sich mit den bei Studierenden oftmals eher stiefmütterlich behandelten Justizgrundrechten zu beschäftigen. Des Weiteren werden in den Zulässigkeitsprüfungen von Verfassungsbeschwerden häufig kleinere Probleme eingebaut. Hierbei wird bei Minderjährigen Beschwerdeführern oftmals übersehen, dass im Rahmen der Prozessfähigkeit das Argumentationsvermögen abgeprüft wird. Es muss anhand mehrerer Sachverhaltsumstände erläutert werden, ob der Beschwerdeführer über eine hinreichende geistige und sittliche Reife verfügt, um die Bedeutung und Tragweite seiner Beschwerde zu überblicken. Gleichwohl liegt aus klausurtaktischer Sicht in derartigen Konstellationen die Bejahung der Prozessfähigkeit auf der Hand.
D. In der Prüfung
Verfassungsbeschwerde, Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG
I. Zulässigkeit
(P) Prozessfähigkeit
II. Begründetheit
1. Schutzbereich der Rechtsweggarantie, Art. 19 IV GG
2. Eingriff
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
E. Zur Vertiefung
Zur Prozessfähigkeit von Minderjährigen: Lischewski, Kinderrechte im Grundgesetz – Kinder vor dem Verfassungsgericht? –, DÖV 2020, 102;
Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Auflage 2017, Rn. 655ff;
Zum Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG): Bickenbach, Grundfälle zu Art. 19 IV GG, JuS 2007, 813-817;
Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 24. Auflage 2021, § 20 Rn. 873ff.