Entscheidung der Woche 40-2025 (ÖR)

Elias El Bekkouri
Personen, die im Rahmen einer Grenzkontrolle um internationalen Schutz nachsuchen, haben einen Anspruch auf Durchführung des vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die Prüfung dieses Antrags nach der Verordnung (EU) 604/2013 – Dublin-III-Verordnung – (juris: EUV 604/2013). Dies steht einer unmittelbaren Zurückweisung an der Grenze entgegen.(Rn.28)
Aktenzeichen und Fundstelle
Az.: VG Berlin, Beschluss vom 02.06.2025 - 6 L 192/25
in: openJur 2025, 14349
A. Leitsätze (gekürzt)
1.Personen, die im Rahmen einer Grenzkontrolle um internationalen Schutz nachsuchen, haben einen Anspruch auf Durchführung des vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die Prüfung dieses Antrags nach der Verordnung (EU) 604/2013 – Dublin-III-Verordnung – (juris: EUV 604/2013). Dies steht einer unmittelbaren Zurückweisung an der Grenze entgegen.(Rn.28)
2.Die Anwendung der Dublin-III-Verordnung (juris: EUV 604/2013) kann nicht unter Berufung auf Art. 72 AEUV unterbleiben, soweit nicht hinreichende Gründe [...] dargelegt werden. Diese Darlegung setzt eine Gesamtbetrachtung voraus, die sich nicht auf numerische Werte [...] beschränkt, ohne auszuführen, welche Auswirkungen dies für die Grundinteressen der Gesellschaft des Mitgliedstaats oder das Funktionieren seiner staatlichen Einrichtungen hat. Die geplanten Maßnahmen müssen verhältnismäßig und insbesondere konkret geeignet und erforderlich sein, der bestehenden Gefahr abzuhelfen. Vorrangig sind diejenigen Schutzmechanismen zu nutzen, die das Sekundärrecht selbst bereithält.(Rn.54) (Rn.56) [...].
B. Sachverhalt
Der Antragsteller, ein 19-jähriger somalischer Staatsangehöriger, gelangte im April 2025 über Belarus und Litauen nach Polen. Mehrere Versuche, von dort in die Bundesrepublik einzureisen, blieben erfolglos. Am 9. Mai 2025 wurde er im Grenzbereich Frankfurt (Oder) von der Bundespolizei angetroffen. Dort erklärte er ausdrücklich, Schutz in Deutschland beantragen zu wollen; seine anwaltliche Vertreterin übermittelte noch am selben Tag einen schriftlichen Asylantrag an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Gleichwohl verweigerte die Bundespolizei die Einreise, führte eine Anhörung durch und wies den Antragsteller nach Polen zurück, wo er seither einer Meldepflicht unterliegt und in einer von einer NGO bereitgestellten Unterkunft lebt. Mit dem vorliegenden Antrag begehrt er die Gestattung des Grenzübertritts sowie die Durchführung des Asylverfahrens im Bundesgebiet. Die Antragsgegnerin stützt die Zurückweisung auf nationale Vorschriften zur Einreiseverweigerung bei Drittstaatsangehörigen, die aus einem sicheren EU-Mitgliedsstaat – hier Polen – einreisen wollen. Nach ihrer Auffassung begründet die bloße Äußerung eines Schutzgesuchs gegenüber der Grenzbehörde weder eine Pflicht zur Einreisegestattung noch zur Durchführung eines Asylverfahrens; vielmehr sei der Antragsteller gehalten gewesen, in Polen Schutz zu suchen.
Demgegenüber macht der Antragsteller geltend, Deutschland sei unionsrechtlich verpflichtet, sein Asylgesuch entgegenzunehmen und ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Dublin-III-Verordnung einzuleiten. Die unmittelbare Zurückweisung an der Grenze ohne jede Prüfung verstoße sowohl gegen Art. 18 GRCh und § 18 Abs. 1 AsylG als auch gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes.
Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens war damit die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung sowie die Frage, ob dem Antragsteller die Einreise zur Durchführung eines Asylverfahrens im Bundesgebiet zu gestatten ist.
C. Anmerkungen
Im Mittelpunkt des Beschlusses steht die dogmatische Klärung des Verhältnisses zwischen der nationalen Einreiseverweigerung nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG und der unionsrechtlichen Zuständigkeitsordnung gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin‑III‑VO). Das Verwaltungsgericht arbeitet heraus, dass das Schutzbegehren des Antragstellers bei der Grenzkontrolle einen Asylantrag im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Dublin‑III‑VO darstellt, der unionsrechtliche Wirkungen unmittelbar auslöst. Die unionsrechtliche Zuständigkeitsregelung hat insoweit Vorrang vor entgegenstehenden nationalen Vorschriften und erfasst auch den physischen Grenzbereich, sodass die im nationalen Aufenthaltsrecht verankerte Nichteinreisefiktion (§ 13 Abs. 2 S. 2 AufenthG) unbeachtlich bleibt.
Das Gericht stellt ferner klar, dass ein wirksamer Asylantrag keine besonderen Formvorgaben unterliegt und insbesondere auch mündlich gegenüber der Grenzbehörde gestellt werden kann. Daraus folgt die Verpflichtung der zuständigen Behörde, unverzüglich das Dublin‑Zuständigkeitsverfahren einzuleiten. Eine vorgelagerte „Prüfstufe“ in Gestalt eines selbständigen Einreiseverweigerungsverfahrens („Pre‑Dublin“) ist unionsrechtlich nicht vorgesehen und unzulässig. Gleiches gilt für die Heranziehung bilateraler Rückübernahmeabkommen, etwa des deutsch‑polnischen Polizeivertrags, wenn ein Fall in den Anwendungsbereich der Dublin‑III‑VO fällt; diese Abkommen können unionsrechtliche Vorgaben weder modifizieren noch verdrängen. Den Verweis der Antragsgegnerin auf Art. 72 AEUV weist das Gericht zurück. Diese Bestimmung, die Ausnahmen vom Unionsrecht zum Schutz der inneren Sicherheit und öffentlichen Ordnung zulässt, ist eng auszulegen. Sie setzt das Vorliegen einer konkret belegten, erheblichen Gefahr voraus und gestattet keine pauschale Berufung auf erhöhte Migrationszahlen oder statistische Eurodac‑Treffer. Vorrangig sind die im Sekundärrecht vorgesehenen Instrumente – namentlich Art. 33 Dublin‑III‑VO und Art. 43 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrens‑RL) – auszuschöpfen. Zulässig sind indes Grenzverfahren im Sinne von Art. 43 Asylverfahrens‑RL und § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG, bei denen das Zuständigkeitsverfahren vor dem Grenzübertritt durchgeführt wird.
Diese dürfen jedoch nicht zur Umgehung des Dublin‑Verfahrens missbraucht werden. Aus der festgestellten Rechtswidrigkeit der sofortigen Zurückweisung leitet das Gericht einen Folgenbeseitigungsanspruch her: Der Antragsteller ist zur Durchführung des Dublin‑Verfahrens in das Bundesgebiet einreisen zu lassen. Ein unmittelbarer Anspruch auf Erteilung einer Aufenthalts- (§ 55 AsylG) oder Einreisegestattung nach § 13 AufenthG wird hingegen verneint, da diese Rechtspositionen an zusätzliche formale Voraussetzungen geknüpft sind. Schließlich bejaht das Gericht das Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Sinne von § 123 VwGO: Ohne die beantragte einstweilige Anordnung drohe dem Antragsteller eine Rückführung nach Belarus über Polen ohne vorherige Prüfung seines Schutzgesuchs in der Europäischen Union. Die lediglich durch eine NGO organisierte Unterbringung in Polen sowie die auferlegte wöchentliche Meldepflicht vermögen eine solche Gefahr nicht hinreichend zu bannen. Der Beschluss verdeutlicht in der Summe die unbedingte Vorrangstellung der unionsrechtlichen Zuständigkeitsmechanismen, die restriktive Reichweite des Art. 72 AEUV und die Bindung nationaler Grenz- und Rückführungspraktiken an das europäische Asylverfahrensrecht.
D. In der Prüfung: Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung
I. Zulässigkeit des Antrags
1. Statthafte Antragsart, § 123 I 2 VwGO
2.Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog
3.Rechtsschutzbedürfnis, § 58 II VwGO
(P: fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung)
4.Beteiligten- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO
5.Zuständigkeit des Gerichts, §§ 45, 52 VwGO
II. Begründetheit des Antrags
1.Anordnungsanspruch
a.Anspruchsgrundlage, Folgenbeseitigungsanspruch i.V.m. Art. 3, 20 II VO (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO); Art. 6 RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL)
b.Rechtswidrigkeit der Einreiseverweigerung
i.Vorrang der Dublin-III-VO ggü. § 18 II Nr. 1 AsylG
ii.Hoheitsgebiet und Nichteinreisefiktion, § 13 II 2 AufenthG
iii.Wirksamkeit mündlicher Antragsstellung, Art. 20 II VO (EU) Nr. 604/2013; Art. 6 I, III RL 2013/32/EU
iv.Unzulässigkeit eines “Pre-Dublin”-Verfahrens, Art. 3, 20 VO (EU) Nr. 604/2013; Art. 6 RL 2013/32/EU
v.Verbot der Anwendung bilateraler Abkommen, Art. 27 ff. VO (EU) Nr. 604/2013 i.V.m. Art. 351 AEUV
vi.Schranken des Art. 72 AEUV, Art. 33 VO (EU) Nr. 604/2013, Art. 43 RL 2013/32/EU
2.Anordnungsgrund, § 123 I VwGO
(P: Gefahr irreversibler Rechtsvereitelung)
E. Literaturhinweise und weitere Vertiefung der Thematik
BeckOK MigR/Kohoutek, 21. Ed. 1.5.2025, Dublin III-VO Einführung Rn. 1
Allenberg: Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten - Eine menschenrechtliche Bewertung der aktuellen Debatte, MigRI 2024, 241
