Entscheidung der Woche 43-2018 (ÖR)
Frederike Hirt
Ein Tornodakampfjet, der zu Gefahrerforschungszwecken über eine Demonstration fliegt, fällt unter den versammlungsgrundrechtlichen, faktischen Eingriffsbegriff; dieser Eingriff kann jedoch im Einzelfall durchaus gerechtfertigt sein.
Aktenzeichen & Fundstelle
Az.: BVerwG – 6 C 46.16
in: BeckRS 2017, 138164
NJW 2018, 716
DÖV 2018, 249
A. Orientierungs- oder Leitsatz
Der Tiefflug eines militärischen Kampfflugzeugs über ein Zeltlager im Vorfeld einer Demonstration stellt einen faktischen Eingriff in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG dar.
B. Sachverhalt
Zur Vorbereitung einer Demonstration errichteten ca. 5000 Personen ein Zeltlager. Vorsorgehalber gewährte das Bundesinnenministerium dem Land Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG, §§ 4 Abs. 1; 5 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG mit Einsatz der Bundeswehr. Nachdem es in dem Camp zu gewaltsamen Ausschreitungen kam, bestand ein Gefahrenverdacht auf die wiederholte Begehung von Straftaten. Zu Ermittlungszwecken flog ein Tornado-Kampfflugzeug der Bundeswehr mit einem Abstand von 114 Metern über die Unterkunft hinweg und machte Fotoaufnahmen.
C. Anmerkungen
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seiner Entscheidung verschiedene Grundsätze des Verfassungs- und Verwaltungsrechts miteinander zu kombinieren. Beachtlich sind hierbei folgende Punkte:
1. Die Begründetheit der nachträglichen Feststellungsklage bestand aus einer vollständigen Grundrechtsprüfung von Art. 8 Abs. 1 GG. Hierin liegt die Überprüfung eines Exekutivakts am Maßstab eines Grundrechts. Eine Verfassungsbeschwerde scheitert in diesen Fällen an der fehlenden Rechtswegerschöpfung, § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG.
2. Der Abwehrcharakter von Art. 8 Abs. 1 GG gilt bereits im Vorfeld einer Versammlung. Ansonsten würde die Entstehung jeder Versammlung durch Maßnahmen im Vorhinein verhindert und darüber die Versammlungsfreiheit ausgehöhlt werden können.
3. Der Flug zielte nicht darauf ab, die Campbewohner einzuschüchtern, es liegt also keine finale, staatliche Maßnahme vor. Indes wirkt ein tief fliegendes Kampfflugzeug nach objektiver Betrachtung derart bedrohlich, dass es von der Teilnahme an den Protesten abschrecken kann. Somit lag ein faktischer Eingriff vor.
4. Trotz der Spezialität des Versammlungsrechts durfte der Tiefflug im vorliegenden Fall auf die polizeiliche Generalklausel (wie bspw. § 11 NdsSOG) gestützt werden. Zwar gilt das im Regelfall vorrangige Versammlungsrecht auch im Vorfeld einer Versammlung. Die Vorschriften für Bild- und Tonaufnahmen (in Nds. § 12 Abs. 1 S. 1 NVersG) sind ihrem Wortlaut nach aber gerade nur auf dem direkten Weg zu oder während einer Versammlung einschlägig.
5. Der Flug zielte lediglich darauf ab Bildmaterial für die Gefahrenprognose zu sammeln. Gleichzeitig war der Einsatz (noch) nicht derart beängstigend, dass eine Teilnahme an den Protesten der folgenden Tage unzumutbar gewesen wäre. Mit dieser verhältnismäßig ausgestalteten Gefahrerforschungsmaßnahme konnte der Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden.
D. In der Prüfung
I. Schutzbereich
1. Persönlicher Schutzbereich
2. Sachlicher Schutzbereich
a. Versammlung
b. Friedlich und ohne Waffen
II. Eingriff (!)
III. Rechtfertigung
E. Zur Vertiefung
Zum modernen Eingriffsbegriff: Voßkuhle/Kaiser, Jus 2009, 313f.; BVerfGE 105, 252ff.; 279ff.;
Wiederholung Verhältnis vom Versammlungsrecht zum allgemeinen POR: Mehde in: Hartmann/Mann/Mehde, Landesrecht Niedersachen, 2. Auflage, § 4 Rn. 6, 149.