Entscheidung der Woche 46-2020 (ÖR)
Anna Ordina
Eine strafrechtliche Beleidigungsverurteilung nach §§ 185 f., 193 StGB wegen ehrschmälernder Äußerungen erfordert eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen in den konkreten Umständen des Falles.
Aktenzeichen & Fundstelle
BVerfG, Beschl. v. 19.08.2020 – 1 BvR 2249/19
A. Leitsätze
Eine strafrechtliche Beleidigungsverurteilung nach §§ 185 f., 193 StGB wegen ehrschmälernder Äußerungen erfordert eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen in den konkreten Umständen des Falles. Für eine Strafbarkeit genügt nicht allein der Umstand, dass eine Äußerung die betroffene Person in ihrer Ehre herabsetzt. Dies begründet gerade erst das Abwägungserfordernis. Die Abwägung setzt voraus, dass die durch die Verurteilung berührten Meinungsfreiheitsinteressen überhaupt gerichtlich erkannt und erwogen werden.
B. Sachverhalt (verkürzt)
Dem Beschluss liegt eine mündlich getätigte Äußerung des sich in Sicherungsverwahrung befindlichen Beschwerdeführers gegenüber einer Sozialarbeiterin einer Justizvollzugsanstalt zugrunde. Wegen Computerproblemen war das für Einkäufe in der Einrichtung verfügbare Taschengeld des Beschwerdeführers zu dem Zeitpunkt, zu dem Bestellungen aufzugeben gewesen wären, noch nicht gebucht. Da der Beschwerdeführer zudem fürchtete, dass das Geld nicht rechtzeitig für einen Einkauf zur Verfügung stehen und er die Bestellmöglichkeit verpassen würde, suchte er am selben Tag in aufgeregtem Zustand das Dienstzimmer einer Sozialarbeiterin der Justizvollzugsanstalt auf. Da er das Gefühl hatte, mit seinem Anliegen nicht zu dieser durchzudringen, wurde er wütend und bezeichnete sie i.R. eines Wortschwalls als „Trulla“. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer von den Strafgerichten wegen Beleidung verurteilt. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG durch die Entscheidungen.
C. Anmerkungen
Bei der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht werden im Rahmen einer Urteilverfassungsbeschwerde die angegriffenen Entscheidungen an den Maßstäben der Grundrechte überprüft. Sofern durch die strafrechtlichen Verurteilungen in das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eingriffen wird , ist eine Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung und darauf aufbauend im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite zur Folge hat, von Nöten. Dabei können insbesondere der Inhalt, Form, Anlass und die Wirkung der Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten zu berücksichtigen sein. Eine solche Abwägung kann in bestimmten Einzelfällen entbehrlich sein, wenn herabsetzende Äußerungen die Menschenwürde einer konkreten Person antasten oder sich als Formalbeleidung oder Schmähung darstellen. Dies stellt jedoch eine Ausnahme dar, woran strenge Voraussetzungen geknüpft sind, sodass in nicht eindeutig gelagerten Grenzfällen durch die Gerichte eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit vorzunehmen ist.
D. In der Prüfung
A. Zulässigkeit
B. Begründetheit
Prüfungsmaßstab: spezifisches Verfassungsrecht
BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz
I. Verletzung der Meinungsfreiheit
1. Schutzbereich
2. Eingriff
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG
(P) Allgemeines Gesetz
Hier: § 185 f. StGB
b) Verfassungsmäßigkeit des § 185 StGB
c) Verfassungsgemäße Anwendung im Einzelfall nach der Wechselwirkungslehre muss das Grundrecht einschränkende Gesetz selbst im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt werden
E. Vertiefungshinweise
Heim, NJW-Spezial 2016, 568;
BVerfG, Beschl. V. 19.05.2020 – 1 BvR 2397/19.