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Entscheidung der Woche 46-2022 (ÖR)

Sophia Mustafoska

Einem Protestcamp als Dauerveranstaltung steht der Art. 8 GG und das Versammlungsgesetz grundsätzlich nicht entgegen.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BVerwG 6 C 9/20

in: NVwZ 2022, 1197

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

1. Der Charakter eines Protestcamps als Dauerveranstaltung steht seiner Einordnung als durch Art. 8 GG und das Versammlungsgesetz geschützter Versammlung grundsätzlich nicht entgegen.

2. Die Versammlungsbehörde kann die Dauer eines Protestcamps unter den Voraussetzungen des § 15 I VersG beschränken.

3. Eine infrastrukturelle Einrichtung eines als Versammlung zu beurteilenden Protestcamps unterfält dem unmittelbaren, durch das Versammlungsgesetz ausgestalteten Schutz durch Art. 8 GG, wenn sie entweder einen inhaltlichen Bezug zu der mit dem Camp bezweckten Meinungskundgabe aufweist oder für das konkrete Camp logistisch erforderlich und ihm räumlich zuzurechnen ist.


B. Sachverhalt

Streitig ist, ob ein landwirtschaftliches Grundstück, das während des Klimacamps 2017 im rheinischen Braunkohlerevier für Schlafzelte von Campteilnehmern und für Sanitäreinrichtungen genutzt wurde, als durch Art. 8 GG geschützte Versammlung zu beurteilen ist und in den Anwendungsbereich des (Bundes-)Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz – VersG) idF der Bekanntmachung vom 15.11.1978 (BGBl. 1978 I 1789) fällt. Das Camp wurde als öffentliche Versammlung nach § 14 VersG für den Zeitraum vom 18. bis 29.08.2017 und mit einer maximalen Teilnehmerzahl von 6.000 Personen auf einer Wiese und einem Sportplatz angemeldet. Das Klimacamp wurde vorsorglich als Versammlung bestätigt, wobei sich auf den von dem BVerfG mit Kammerbeschluss vom 28.6.2017 (1 BvR 1387/17, NVwZ 2017, 1374) gewährten Eilrechtsschutz für ein Protestcamp während des G 20-Gipfels im Sommer 2017 in Hamburg bezogen wurde. Nachdem die Fläche mit Schlafzelten belegt war, sollte ein weiteres, angemietetes, landwirtschaftliches Grundstück als zusätzliche Fläche für das Aufstellen von Schlafzelten und Sanitäreinrichtungen hinzugefügt werden. In einer Verfügung wurde diese Fläche indes mit der Begründung, auf der Fläche würde keine Versammlung durchgeführt werden und sie sei, im Gegensatz zum Sportplatz, kein öffentliches Eigentum, abgelehnt. Während das VG Aachen diese Ansicht teilte, änderte das OVG Münster das erstinstanzliche Urteil. Das BVerwG wies die dagegen eingelegte Revision zurück.


C. Anmerkungen

Das Gericht geht nachvollziehbar vom Vorliegen des Feststellungsinteresses iSv § 43 VwGO wegen der Gefahr eines vergleichbaren behördlichen Vorgehens aus. Hinsichtlich des berechtigten Feststellungsinteresses unterlässt es indes zusätzlich die Fallgruppe des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs zu stärken. Während die obergerichtliche Rechtsprechung hierfür die Schutzbereichseröffnung eines Grundrechts regelmäßig nicht genügen lässt, teilt die Rechtsprechung des BVerwG hinsichtlich der Versammlungsfreiheit eine andere Meinung. Demzufolge erfolge schon der Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts das erforderliche Feststellungsinteresse (BVerwG NVwZ 1999, 991). Das BVerwG stellt zudem hervor, dass es keine zeitlichen Höchstgrenzen für Versammlungen gibt, es sei denn es handle sich um ein Camp mit einer absehbar sehr langen, etwa auf viele Monate oder gar Jahre angelegten Dauer. Dem Gericht zufolge kann eine solche extrem lange Dauer ein Indiz dafür sein, dass tatsächlich kein versammlungsspezifischer Zweck verfolgt werde. Die Frage, ob und in welchem Umfang infrastrukturelle Begleiteinrichtungen von Versammlungen am grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit teilhaben, wird uneinheitlich beantwortet.

Gleichwohl herrscht weitgehend Konsens darüber, dass auch infrastrukturelle Einrichtungen (Pavillons, Schlaf- und Sitzelemente, Ver- und Entsorgungseinrichtungen etc.) am Versammlungsort dem Schutzbereich des Art. 8 I GG unterfallen können. Es wird bei aber gefordert, dass sie  versammlungsspezifischen Zwecken dienen. Das BVerwG stellte klar, dass dieser nicht nur dann bestehen kann, wenn eine Verbindung der infrastrukturellen Einrichtung mit der Meinungskundgabe vorliegt sondern auch dann, wenn sie für die Veranstaltung des Camps logistisch erforderlich ist. Als Einschränkung gilt das Erfordernis eines qualifizierten räumlichen Zusammenhang der infrastrukturellen Einrichtungen, mit dem solche, die nur der Beherbergung von versammlungsfremden Personen dienen soll, von Art. 8 I GG ausgegliedert werden.


D. In der Prüfung

I. Zulässigkeit der Klage

1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

2. Statthafte Klageart

3. Feststellungsinteresse

4. Klagebefugnis

5. Klagegegner

6. Beteiligten- und Prozessfähigkeit

II. Begründetheit

1. Protestcamp als Versammlung

2. Versammlungseigenschaft infrastruktureller Einrichtungen 


E. Literaturhinweise

BVerwG Urt. v. 24.5.2022 – 6 C 9/20 (OVG Münster) (m. Anm. Eibenstein); Fischer, Infrastruktur bei Protestcamps und der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, NVwZ 2022, 353.

 
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