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Entscheidung der Woche 46-2024 (SR)

Marie Suong Müller

Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an.

Aktenzeichen und Fundstelle

Az.: BGH, Beschl. v. 05.09.2024 - 6 StR 340/24

Fundstelle: openJur 2024, 9080

Vorinstanz: LG Halle, Urt. v. 11.03.2024 - 1 Ks 7/23

 

A. Orientierungs- oder Leitsätze

1. Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an.


B. Sachverhalt

Der Angeklagte, der Geschädigte N und die beiden Zeugen Ny und Z verbrachten im November 2013 die Nacht zusammen in der Wohnung (2. OG) des Ny. Infolge Alkohol- und Kokainkonsums war die Stimmung gelöst und sowohl der Angeklagte als auch der Zeuge Z fühlten sich zu Ny, der aufgrund seiner transsexuellen Neigung als Frau auftrat, hingezogen. Der eifersüchtige, homosexuelle Geschädigte N wies darauf hin, dass es sich bei Ny um einen Mann handele. Infolgedessen geriet der Angeklagte in heftige Wut und stieß N gegen den nicht vollständig herabgelassenen Rolladen des geöffneten Fensters. Dieser brach aus der Schiene, weshalb N durch das Fenster mehr als sechs Meter in die Tiefe stürzte und mit dem Kopf auf dem Gehweg aufschlug. Er erlitt schwere lebensgefährliche Kopfverletzungen, die zu motorischen und kognitiven Einschränkungen führten. Seither ist N erwerbsunfähig und im Alltag auf fremde Hilfe angewiesen. Mit seinem Handeln wollte der Angeklagte den N verletzten, um ihn für seine Äußerungen zu bestrafen. Dabei war dem Angeklagten bewusst, dass N einen Sturz mit großer Wahrscheinlichkeit nicht oder nur mit schweren gesundheitlichen Schäden überleben würde. Dies nahm er jedoch billigend in Kauf.


C. Anmerkungen

Das Landgericht Halle verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer und mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer anderen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren.

Der BGH hob das Urteil mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen auf. Die Auswertung der subjektiven Tatseite sei nicht tragfähig belegt worden. Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Eine Bejahung oder Verneinung könne nur unter der Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen. Dabei seien innerhalb der Prüfung neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei der Begehung der Tat, sowie seine Motivationslage zu berücksichtigen. Das Urteil des Landgerichts werde diesen Anforderungen nicht gerecht. Insgesamt hätten die Urteilsgründe zwar darauf hingedeutet, dass die Strafkammer ihren Schwerpunkt auf die Gefährlichkeit der Tathandlung und den Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts legte, dies seien allerdings keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit einem bedingten Vorsatz gehandelt hat. Vielmehr komme es auf die Umstände des Einzelfalls und eine Gesamtbetrachtung aller Tatumstände an. Aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts kann, insbesondere bei spontanen, unüberlegten oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen, nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten auf ein voluntatives Vorsatzelement geschlossen werden. Demzufolge hätte das Landgericht die alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten zur Entkräftung des Tötungsvorsatzes beachten müssen.

Weiterhin sei der Handlungsantrieb des Angeklagten nur von Bedeutung, soweit daraus Rückschlüsse auf die Stärke des vom Täter empfundenen Tatanreizes und damit auf die Bereitschaft zur Inkaufnahme schwerster Folgen geschlossen werden können. Denn Täter, die mit bedingtem Tötungsvorsatz handeln, hätten in der Regel kein Tötungsmotiv.

Die Sache bedürfe aufgrund des aufgezeigten Rechtsfehlers neuer tatgerichtlicher Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung entziehe dem Schuldspruch zudem die Grundlage für die tateinheitlich verwirklichten Delikte. Nicht betroffen seien hingegen die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen.


D. In der Prüfung

§§ 212 I, 22, 23 I StGB

I. Vorprüfung

1. Keine Vollendung der Tat (+)

2. Strafbarkeit des Versuchs (+)

II. Tatbestand

1. Tatentschluss (-)

III. Ergebnis (-)


E. Literaturhinweise

Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 15. Auflage 2023, § 34.

 

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