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Entscheidung der Woche 48-2019 (ÖR)

Frederike Hirt

Eine Selbstbindung der Verwaltung kann sich durch jahrzehntelang gewährte Sperrzeitverkürzungen ergeben. Haben sich hierdurch Gaststättenbetreiber auf ein entsprechendes Betriebsmodell eingerichtet, bedarf es zur Änderung der Verwaltungspraxis neben sachgerechten Erwägungen auch einer angemessenen Übergangsfrist.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: VGH Mannheim, Beschl. v. 12.12.2018 - 6 S 2448/18

in: NVwZ-RR 2019, 774

BeckRS 2018, 34107

 

A. Leitsatz

Eine Selbstbindung der Verwaltung kann sich durch jahrzehntelang gewährte Sperrzeitverkürzungen ergeben. Haben sich hierdurch Gaststättenbetreiber auf ein entsprechendes Betriebsmodell eingerichtet, bedarf es zur Änderung der Verwaltungspraxis neben sachgerechten Erwägungen auch einer angemessenen Übergangsfrist.


B. Sachverhalt (verkürzt)

Seit 1992 erhält der Gaststättenbetreiber durchgehend eine auf sechs Monate befristete Sperrzeitverkürzung bis 06:00 Uhr. Der Antrag auf erneute Sperrzeitverkürzung für Juli-Dezember 2018 wurde unter Bezugnahme auf Anwohnerbeschwerden abgelehnt. Die Behörde habe ihre Verwaltungspraxis zur Erteilung daher geändert. Andere Gaststätten in räumlicher Nähe erhielten allerdings eine Verkürzung. Der Gaststättenbetreiber erhob Widerspruch und beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem Ziel vorläufig eine Sperrzeitverkürzung zu erhalten.


C. Anmerkungen

Anspruchsgrundlage für eine Sperrzeitverkürzung ist in Baden-Württemberg § 18 GastG i.V.m. § 12 GastVO. In Niedersachsen gelten für Gaststätten von vornherein keine Sperrzeiten, für Spielhallen gelten Ausnahmen nach § 10 NGastG i.V.m. § 2 SperrZVO. Der Schwerpunkt des Falles liegt in der Frage, ob das Ermessen der Verwaltung dahingehend auf Null reduziert ist, dass die Ausnahme von den Sperrzeiten dem Betreiber zugesprochen werden muss. Das könnte sich aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. der Selbstbindung der Verwaltung ergeben. Voraussetzung hierfür ist, dass eine rechtmäßige Verwaltungspraxis hinsichtlich der Bewilligung von Sperrzeitverkürzungen besteht.

Indem eine Sperrzeitverkürzung dem Gesetzeswortlaut nach nur befristet und widerruflich bewilligt werden darf, könnte die durchgängige Bewilligungspraxis der Zielsetzung der Ausnahmeregelung widersprechen. Dann wäre sie rechtswidrig, ein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht besteht gerade nicht. Allerdings erkenne die GastVO in § 11 die Möglichkeit einer dauerhaften Ausnahme an. Auch bestünden für die „kettenbefristeten“ Sperrzeitaufhebungen gerade im Innenstadtbereich besondere örtliche Verhältnisse. Durch die ständige

Praxis seit 1992 liegt somit eine rechtmäßige Verwaltungspraxis vor, die grundsätzlich zu einer Selbstbindung der Verwaltung führt.

Es steht der Behörde aber offen ihre Verwaltungspraxis für die Zukunft zu ändern, sofern ein sachlicher Grund vorliegt. Weder eine individuelle noch eine generelle Änderung habe die Behörde aber sachgerecht begründet. Denn andere Betreiber erhielten noch eine Sperrzeitverkürzung, konkrete Gründe nur dem Antragsteller die Ausnahme zu versagen, hätten nicht vorgelegen.

Darüber hinaus stellt der VGH klar, dass die Behörde eine angemessene Übergangsregelung hätte treffen müssen. Dies gebiete der Vertrauensschutz aus Art. 12 Abs. 1 GG. Selbst wenn die Änderung der Verwaltungspraxis sachgerecht

gewesen wäre, hätte die Behörde die Sperrzeitverkürzung erst nach Ankündigung der Änderung und einem gewissen Zeitablauf versagen dürfen. Schließlich muss der Gaststättenbetreiber sein Betriebskonzept nach 25 Jahren Nachtbetrieb finanziell und strukturell neu aufstellen, wenn er keine Ausnahme mehr erhält bis 06:00 Uhr früh geöffnet zu haben. Ohne diese Ankündigung wäre eine Versagung auch ermessensfehlerhaft.

Der VGH prüft in der Entscheidung sehr anschaulich die Voraussetzungen einer Selbstbindung der Verwaltung – vom Bestehen einer Praxis über ihrer Rechtmäßigkeit bis hin zu ihrer Beendigung sind alle Punkte enthalten, an denen eine Selbstbindung scheitern könnte. Sollte dies einmal der Fall sein, gilt es dennoch an Ermessensfehler durch Vertrauensschutzgesichtspunkte und mögliche Übergangsregelungen zu denken.


D. In der Prüfung

Begründetheit des Antrags

I. Anordnungsanspruch

1. Anspruchsvoraussetzungen aus § 18 GastG i.V.m. § 12 GastVO

2. Rechtsfolge: Ermessensreduktion Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Selbstbindung der Verwaltung (!)

II. Anordnungsgrund § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO

III. Glaubhaftmachung § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO

IV. Rechtsfolge: Ermessen des Gerichts und Unzulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache (!)


E. Zur Vertiefung

Kluckert, Die Selbstbindung der Verwaltung, JuS 2019, 536ff.

 

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