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Entscheidung der Woche 51-2020 (SR)

Yael Prantl

Ein vollendeter Mord oder Totschlag kann auch dann vorliegen, wenn der Täter das Opfer mit bedingtem Tötungsvorsatz angreift, später die vermeintliche Leiche beseitigt und erst dadurch den Tod verursacht, ohne jetzt noch an diese Möglichkeit zu denken.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BGH 5 StR 77/60

in: BGHSt 14, 193

BeckRS 9998, 116629

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

Ein vollendeter Mord oder Totschlag kann auch dann vorliegen, wenn der Täter das Opfer mit bedingtem Tötungsvorsatz angreift, später die vermeintliche Leiche beseitigt und erst dadurch den Tod verursacht, ohne jetzt noch an diese Möglichkeit zu denken.


B. Sachverhalt (verkürzt)

A stopfte B während eines Wortgefechts mit bedingtem Tötungsvorsatz zwei Hände voll Sand in den Mund, um sie am Schreien zu hindern. B verlor daraufhin das Bewusstsein und blieb regungslos liegen. A war vom Tod der B fest überzeugt und warf die vermeintliche Leiche in eine Jauchegrube, in der B ertrank.

Hat sich A wegen vollendeten Totschlags gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht?


C. Anmerkungen

Der mittlerweile 60 Jahre zurückliegende Jauchegrubenfall zählt zu den echten Klassikern im Strafrecht. Das Kernproblem liegt darin, dass A fälschlicherweise annimmt, den Erfolg bereits durch die erste Handlung (Stopfen von Sand in den Mund) herbeigeführt zu haben. Daraus resultiert eine Fehlvorstellung bzgl. der Beschaffenheit des Angriffsobjekts der zweiten Handlung (Versenken in der Jauchegrube). A glaubt, einen leblosen Körper zu beseitigen, anstatt eine lebende Person zu töten. Der Erfolg wurde - entgegen der Annahme von A - erst durch die zweite Handlung verwirklicht. A unterliegt somit zwei Irrtümern. Fraglich ist, ob und inwieweit sich die Fehlvorstellung der A auf ihre Strafbarkeit auswirkt.

Der BGH widerspricht zwar der Möglichkeit eines das gesamte Geschehen durchziehenden Generalvorsatzes, da der Vorsatz nach dem Koinzidenzprinzip an eine bestimmte Handlung anknüpfen und bei deren Vornahme vorliegen muss. Nach der Rechtsprechung des BGH soll A aber bereits beim Stopfen des Sandes in den Mund des Opfers mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt haben. Durch diese Handlung habe A den Tod mittelbar verursacht. Nachdem A der B Sand in den Mund stopfte, lag B regungslos da und wurde von A für tot gehalten. Nur deshalb wurde B in die Jauchegrube geworfen. Zum Erfolg wäre es ohne die vorherigen Handlungen, die mit bedingten Tötungsvorsatz begangen wurden, nicht gekommen. Die erste Handlung ist mithin ursächlich für die zweite Handlung, die zum Tod der B führte. Dass der Taterfolg nicht in der von A vorgestellten Weise, sondern erst durch das spätere Ertrinken in der Jauchegrube eingetreten ist, stellt zwar einen Irrtum über den Kausalverlauf dar, ändert jedoch nichts am bestehenden Vorsatz.

Der BGH begründet diese Ansicht mit der Ausführung, dass die Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Ursachenablauf nur gering und ohne rechtliche Bedeutung sei. Der Täter muss den konkreten Kausalverlauf lediglich in seinen Grundzügen erfassen, da sich dieser nie in allen Einzelheiten voraussehen lässt. Sofern sich das tatsächliche Geschehen von dem vom Täter vorgestellten Kausalverlauf nur unwesentlich unterscheidet, bleibt der Vorsatz bestehen.

A habe sich daher wegen vollendeten Totschlags gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.


D. In der Prüfung

A. Strafbarkeit der A gem. § 212 Abs. 1 StGB durch Werfen der B in die Jauchegrube

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) Taterfolg

b) Kausalität & Obj. Zurechnung

2. Subjektiver Tatbestand (-)

P: Vorsatzausschließender Irrtum gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB

B. Strafbarkeit der A gem. § 212 Abs. 1 StGB durch Stopfen von Sand in den Mund der B

I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand

a) Taterfolg

b) Kausalität & Obj. Zurechnung

2. Subjektiver Tatbestand

a) Tötungsabsicht

b) Vorsatzausschließender Irrtum gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB (-)

P: Irrtum über den Kausalverlauf, hier: keine wesentliche Abweichung

II. Rechtswidrigkeit und Schuld


E. Zur Vertiefung

Valerius, Irrtum über den Kausalverlauf bei mehraktigem Tatgeschehen (JA 2006, 261).

 
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