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Entscheidung der Woche 52-2022 (ÖR)

Nils Grimmig

Für Informationen, die die Organisation und die Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste betreffen, kommt eine Begrenzung des Fragerechts des Abgeordneten im Sinne einer „Bereichsausnahme“ nicht in Betracht.

Aktenzeichen & Fundstelle

Az.: BVerfG 2 BvE 8/21

in: BeckRS 2022, 35774

 

A. Orientierungs- oder Leitsatz

1. Für Informationen, die die Organisation und die Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste betreffen, kommt eine Begrenzung des Fragerechts des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG im Sinne einer „Bereichsausnahme“ nicht in Betracht.

2. Das parlamentarische Kontrollgremium ist ein zusätzliches Instrument der parlamentarischen Kontrolle, das sonstige parlamentarische Informationsrechte nicht verdrängt.


B. Sachverhalt

Ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages bat die Bundesregierung um Auskunft über die Anzahl der in den letzten fünf Jahren jeweils in das Ausland entsandten Bediensteten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Mit Schreiben vom 9.12.2020 teilte das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) im Namen der Bundesregierung mit, dass die Beantwortung der Frage nicht erfolgen könne. Die abgefragten Informationen beträfen in besonderem Maße das Staatswohl. Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen der Sicherheitsbehörden des Bundes seien im Hinblick auf die künftige Aufgabenerfüllung besonders schutzwürdig. Die Beantwortung der Frage würde spezifische Informationen zur Tätigkeit, insbesondere zur Methodik und den konkreten Fähigkeiten der Sicherheitsbehörden einem nicht eingrenzbaren Personenkreis zugänglich machen. Insbesondere durch die Auskunft über die Größenordnung des eingesetzten Personals könnten Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des BfV gezogen werden. Der Abgeordnete stellte daraufhin einen Antrag auf Einleitung eines Organstreitverfahrens. Er begehrt die Feststellung, dass ihn die Bundesregierung durch die Verweigerung der erbetenen Auskunft in seinem parlamentarischen Fragerecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt hat.


C. Anmerkungen

Der zulässige Antrag ist begründet. Die Bundesregierung hat den Antragsteller durch die Verweigerung der Auskunft in seinem parlamentarischen Fragerecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt. Aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG folgt ein Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung, an dem die einzelnen Abgeordneten nach Maßgabe der Ausgestaltung in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages teilhaben und dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung gegenübersteht. Dieses parlamentarische Fragerecht des Antragstellers hat die Bundesregierung durch die Verweigerung der Beantwortung des Auskunftsersuchens beeinträchtigt. Die Wahrnehmung dieses Rechts wird dabei durch den Zuständigkeitsbereich der Regierung, den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, die Grundrechte Dritter und das Staatswohl begrenzt. Doch die Bundesregierung hat eine darauf gestützte Verweigerung nachvollziehbar zu begründen. Ein Nachschieben von Gründen ist dabei nicht zulässig. Das BfV ist eine dem BMI nachgeordnete Behörde, die dessen Rechts- und Fachaufsicht untersteht. Damit betrifft die Anfrage den Zuständigkeitsbereich der Regierung. Zudem erfasst sie ausschließlich in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Vorgänge, sodass der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung nicht berührt ist. Grundrechte Dritter in Form des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit der verdeckt handelnden Bediensteten des BfV aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sind ebensowenig berührt. Denn die bloße Mitteilung der Zahl der im nicht näher spezifizierten Ausland verdeckt handelnden Bediensteten des BfV begründet keine relevanten Enttarnungsrisiken für einzelne Personen. Als Rechtfertigung für die Verweigerung der Auskunft käme demnach nur das Staatswohl in Form des Interesses an der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes in Betracht.

Die Bundesregierung führt an, die begehrte Auskunft könne ein entscheidendes Teilstück sein, um sicherheitsrelevante Rückschlüsse auf die Tätigkeit des BfV im Ausland ziehen zu können, da gegnerische Nachrichtendienste Informationen sammelten, um diese wie ein „Mosaik“ zu einem aussagekräftigen Gesamtbild zusammenzuführen. Indes hat naturgemäß jede Auskunft einen Inhalt, der abstrakt einen „Mosaikstein“ in irgendeinem Zusammenhang darstellen könnte. Eine Übernahme dieser Argumentation hätte ein nahezu völliges Leerlaufen des parlamentarischen Fragerechts der Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Sinne einer Bereichsausnahme für die Tätigkeit der Nachrichtendienste zur Folge. Eine solche Bereichsausnahme aber widerspräche dem Gebot, bei einer Kollision des verfassungsrechtlich verankerten Geheimhaltungsinteresses mit dem parlamentarischen Auskunftsanspruch einen Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz herbeizuführen. Aus diesem Grund hätte die Bundesregierung konkret darlegen müssen, dass es sich bei der Auskunft über die Anzahl der im Ausland verdeckt handelnden Bediensteten des BfV gerade um einen solchen „Mosaikstein“ handeln könnte, der geeignet wäre, ein Gesamtbild entstehen zu lassen und damit einen Erkenntnisgewinn anderer Geheimdienste zu ermöglichen. Die behaupteten Geheimhaltungsinteressen überwiegen den parlamentarischen Informationsanspruch hier daher nicht.

Schließlich tritt das Fragerecht des einzelnen Abgeordneten auch nicht hinter das Parlamentarische Kontrollgremium zurück, das aufgrund seiner Aufgabenstellung, seiner eingeschränkten Möglichkeiten der Beweiserhebung und deren Bindung an – teilweise qualifizierte – Mehrheitserfordernisse lediglich eine partielle Kontrolle der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden gewährleisten kann. Ebensowenig trägt der isolierte Einwand, die Erweiterung des Kreises der Geheimnisträger stehe der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage des Antragstellers selbst in eingestufter Form entgegen. Denn das Staatswohl ist im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes nicht allein der Bundesregierung, sondern dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut. Daher kann eine Berufung auf das Staatswohl gegenüber dem Deutschen Bundestag bei geheimhaltungsbedürftigen Informationen in aller Regel jedenfalls dann nicht in Betracht kommen, wenn wirksame Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen getroffen wurden. Zwar kommen bereits keine Rechtfertigungsgründe für die Verweigerung der Auskunft in Betracht. Darüber hinaus hat die Bundesregierung ihre Verweigerung aber auch nicht hinreichend, den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechend, begründet. Denn die Darlegungen beschränken sich hier letztlich auf die bloße Behauptung, die Mitteilung der Gesamtzahl der im angefragten Zeitraum im Ausland tätigen Bediensteten des BfV begünstige die Entwicklung von Abwehrstrategien ausländischer Dienste und gefährde dadurch den Einsatzerfolg. Auch eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass es sich bei der Auslandstätigkeit des BfV dem Grunde nach um eine offenkundige Tatsache handeln dürfte, erfolgt nicht.


D. In der Prüfung

I. Zulässigkeit der Klage

II. Begründetheit

1. Rechtsposition des Antragstellers

2. Beeinträchtigung

3. Rechtfertigung

a) Zuständigkeitsbereich, Kernbereich, Grundrechte Dritter

b) Staatswohl (Unzulässigkeit einer Bereichsausnahme)


E. Literaturhinweise

Harks, Das Fragerecht der Abgeordneten, JuS 2014, 979-982;

Warg, Die Grenzen parlamentarischer Kontrolle am Beispiel des Staatswohls, NVwZ 2014, 1263-1269.

 

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